
Sachsen Die Künstlerin Ute Richter erinnert an eine Pionierin der Arbeiterbildung
In Leipzig-Schleußig existierte von 1928 bis 1933 die "Schule der Arbeit", eine Bildungseinrichtung für Arbeiter, die von Gertrud Hermes gegründet wurde. Dafür beauftrage die Pädagogin den Architekten Johannes Niemeyer mit einem Neubau im Stil der Moderne. Die Leipziger Medienkünstlerin Ute Richter geht in ihrem Buch "Prototyp 1928–33" der Geschichte der "Schule der Arbeit" und ihrer Gründerin Gertrud Hermes nach.
- Fotos, Dokumente und Auszüge aus Fachbüchern der Schulgründerin Gertrud Hermes zeugen von der Geschichte der "Schule der Arbeit".
- Das Buch soll als mobiles Denkmal für die "Schule der Arbeit" und ihre Gründerin dienen.
- Ein Modell der Zukunft: Mittels Fragebögen konnten Arbeiterinnen und Arbeiter Auskunft über ihre Gedanken, Sorgen und Wünsche geben.
Munter blicken die jungen Leute auf dem historischen Schwarzweißfoto in die Kamera. Manche stehen auf Skiern, andere haben sich auf einem Schlitten drapiert. "Winterausflug Schule der Arbeit und Mädelsheim Hohe Straße nach Johann-Georgen-Stadt 1928", verrät die handschriftliche Notiz auf der Rückseite. Trotz der für unsere heutigen Augen eher unzulänglichen Winterbekleidung, aus Strickpullovern, knielangen Hosen oder Röcken und wollenen Kniestrümpfen, scheinen sie den Tag im Schnee sehr zu genießen.
Sicher ein seltener Luxus in ihrem Leben, denn die Jugendlichen sind "einfache" Arbeiterinnen und Arbeiter. Die Leipziger Medienkünstlerin Ute Richter stieß während ihrer Recherche zur "Schule der Arbeit" im Archiv des Stadtgeschichtlichen Museums Leipzig auf das Foto. Solche gemeinsamen Ausflüge waren Teil des Lehrplans, erzählt Richter. Stattdessen verzichtete man auf autoritäre Strukturen. "Das war eine Art Empowerment für junge Leute. Die haben im Obergeschoss gewohnt, immer im Turnus von neun bis zwölf Monaten. Und die waren alle in Lohn und Brot", sagt Richter.

Forschungsprojekt der Künstlerin Ute Richter zur Schule der Arbeit (1928–33) in Leipzig.
WG-Leben mit Diskussionen und Kultur statt autoritärer Strukturen
Nach der Arbeit wurde miteinander diskutiert, es gab, innerhalb der Fabrik, Vorträge und kulturelle Angebote. "Das war ein reformerischer Ansatz, die Arbeiter in ihren Strukturen zu bilden", sagt Richter. Leipzig war Anfang des 20. Jahrhunderts ein industrielles Zentrum mit einer starken Arbeiterbewegung. Die Stadt habe damals erkannt, dass Demokratie durch Bildung der Arbeiter zu erreichen ist, so die Künstlerin.
Die Medienkünstlerin rekonstruiert in ihrem Buch die Geschichte dieser "Schule der Arbeit" anhand von Fotos, Dokumenten und Auszügen aus Fachbüchern der Schulgründerin Gertrud Hermes. Hermes beauftragte damals den Architekten Johannes Niemeyer mit dem Neubau am Rand des Auwaldes in Leipzig-Schleußig. Die Abbildungen aus dieser Zeit zeigen einen modernen Kubus, der zur Gartenseite durch eine Glasfront geöffnet ist.
Innaufnahmen und Grundrisse zeugen davon, wie zweckmäßig und schön auch das Hausinnere gestaltet war. "Das Tolle an diesem Gebäude", schwärmt Ute Richter: "Es hatte nicht nur eine moderne Form, sondern auch eine ganz moderne Haustechnik".

Forschungsprojekt der Künstlerin Ute Richter zur Schule der Arbeit (1928–33) in Leipzig.
Künstlerbuch als mobiles Denkmal für Gründerin Gertrud Hermes
Fließend warmes Wasser, Zentralheizungen und moderne sanitäre Anlagen – ein Niveau, das zu dieser Zeit eigentlich dem Bürgertum vorenthalten war. Mit ihrem egalitären Ansatz war die Schulleiterin Gertrud Hermes, die selbst mit in der Wohngemeinschaft der Arbeiter lebte, eine herausragende Akteurin innerhalb der Stadtgesellschaft.
Umso weniger ist zu verstehen, warum Hermes, ebenso wie ihre "Schule der Arbeit", in Vergessenheit geraten konnte. Die Einrichtung am Rand des Leipziger Auwaldes existierte nur für fünf Jahre.
1933 wurde sie zunächst von rechten Schlägern überfallen, kurz darauf von der Stadtverwaltung geschlossen und das gesamte Kapital konfisziert. In der DDR wurde das Gebäude anderweitig genutzt und 2004 von der Stadt verkauft.

Forschungsprojekt der Künstlerin Ute Richter zur Schule der Arbeit (1928–33) in Leipzig.
"Schule der Arbeit" ist heute ein Wohnhaus
Heute ist das Gebäude zu einer Privatwohnung umgebaut. Dabei gebe es in Leipzig nur wenige Häuser aus der Moderne, so Richter.
"Dass die Stadt das Gebäude ohne Not verkauft hat und damit das Erbe dieser Geschichte nicht angetreten ist, ist ein Skandal."
Auch auf der Liste der Ehrenbürgerinnen der Stadt Leipzig sucht man den Namen Gertrud Hermes vergeblich. Ute Richter setzt dem Haus und der Schulgründerin Gertrud Hermes mit ihrem Buch, das den Charakter einer Materialsammlung hat, ein längst überfälliges Denkmal. Dass deren Konzept auf fruchtbaren Boden fiel, davon zeugen die Zitate von jungen Arbeiterinnen und Arbeitern, die das Buch strukturieren.

Arbeiterzitat aus der "Schule der Arbeit" von Ute Richter.
Bildungsmodell mit Zukunftspotential
Auf Fragebögen, die Gertrud Hermes entwickelt hatte, geben die jungen Schlosser, Bergarbeiter oder Dreher Auskunft über ihre Gedanken, Sorgen und Wünsche. Vieles von dem, worüber in der Schule der Arbeit diskutiert wurde, könnte uns auch heute weiterhelfen, davon ist Ute Richter überzeugt.
Und sie fragt: "Wenn man nicht diesen Arbeiter der Vergangenheit sucht, sondern überall – bei den Paketboten, im Gesundheitswesen, vielleicht auch in den Bildungseinrichtungen – schaut: Was sind das für Strukturen und wie kann man sie ändern, damit sich alle wohler fühlen?"
Das Buch "Prototyp 1928–33" ist Teil einer größeren künstlerischen Arbeit, in der Ute Richter die Schule der Arbeit und das Lebenswerk Gertrud Hermes aus dem Vergessen zurückholen will.
Weitere Informationen (zum Aufklappen):
Ute Richter: "Prototyp 1928–33"
Schule der Arbeit. Material zu einem vergessenen Gebäude der Moderne für Arbeiterbildung in Leipzig
erschienen im Verbrecher Verlag, Februar 2025
Umfang: 128 Seiten
64 schwarz-weiß Abbildungen
Fadenheftung, offener Buchrücken
Gestaltung: Nelly Nakahara & Gerrit Brocks