Archivbild:Axel Drecoll, Direktor der Stiftung Brandenburgische Gedenkstaetten, aufgenommen im Rahmen der Gedenkveranstaltung zum 76. Jahrestag der Befreiung in der Gedenkstaette und Museum Sachsenhausen in Oranienburg am 18.04.2021.(Quelle:picture alliance/Photothek/F.Zahn)

Brandenburg 80 Jahre Befreiung KZ Sachsenhausen: "Die Stimmen der Zeitzeugen werden uns fehlen"

Stand: 03.05.2025 12:28 Uhr

Am 22. April 1945 wurde das Konzentrationslager Sachsenhausen befreit. 80 Jahre später gibt es nur noch wenige Überlebende. Es ist Zeit, neue Formen der Erinnerung an die Gräuel der NS-Zeit zu finden, sagt Axel Drecoll, Leiter der Gedenkstätte.

Es muss ein alles erschütterndes Bild gewesen sein, das sich am 22. April 1945 geboten hat. 3.000 Menschen waren im KZ-Sachsenhausen zurückgeblieben, darunter überwiegend Kranke. Mehr als 30.000 Menschen hatten die Nazis erst am Tag zuvor auf einen Todesmarsch gezwungen, um die Spuren ihrer sogenannten Endlösung zu verwischen.

rbb: Axel Drecoll, Wie müssen wir uns diese Befreiung heute vor 80 Jahren vorstellen? Was haben die sowjetischen und polnischen Soldaten dort in Sachsenhausen vorgefunden?

Die Soldaten haben zunächst mal unbeschreibliches Elend vorgefunden, weil nur die Menschen im Konzentrationslager verblieben sind, die nicht mehr marschfähig waren. Das war der Terminus, den man dafür verwendet hat. Das heißt, kranke Frauen und Männer, ein paar wenige Kinder waren auch darunter. Medizinische Versorgung gab es so gut wie gar nicht mehr. Das heißt, viele Häftlinge sind dann auch noch nach der Befreiung gestorben – das wissen viele nicht. Aufgrund ihrer Krankheiten, wegen Schwäche und so weiter. Und dazu kommt, dass die zehnfache Anzahl von Häftlingen auch noch auf den Todesmarsch geschickt worden war. Für die war das Grauen noch nicht vorbei.

Es gibt nur noch wenige Zeitzeugen. Wie wird das Erinnern und das Gedenken künftig ohne Zeitzeugen aussehen?
 
Es wird sich definitiv etwas verändern. Wobei ich immer sage, dass viele Besucherinnen und Besucher, die auch bei uns in den Gedenkstätten waren und sind, nie die Gelegenheit hatten, mit Zeitzeugen und Zeitzeuginnen zu sprechen.
 
Verändern wird sich etwas für unsere Arbeit. Für uns waren die Zeitzeuginnen und Zeitzeugen immer sehr wichtige Bezugspunkte für die eigene Arbeit, aber auch moralische Instanzen. Sie waren wichtig, weil man sie gehört hat, weil sie sich öffentlich geäußert haben. Ihre Stimmen werden uns fehlen. Und auch viele der Angehörigen sind mittlerweile 70, 80 Jahre alt: die Kinder, die Söhne und Töchter. Das heißt, es ist absehbar, dass wir auch deren Stimmen nicht mehr hören werden. Das wird nicht mehr so lange dauern. Und dann werden wir uns, gerade was das Gedenken angeht, tatsächlich neue Formen suchen müssen. Was die NS-Aufarbeitung im Allgemeinen angeht, denke ich, da haben wir viele Mittel und Wege, das auch weiter tragen zu können.

Gerade wenn es immer weniger Zeitzeugen gibt, wird es offenbar auch leichter, das Gedenken selbst zu relativieren. Wir hören immer öfter Stimmen, gerade von rechter Seite, die betonen, man müsse auch auf die Leistungen der Deutschen und der Wehrmacht damals hinweisen und nicht immer nur auf die Gräueltaten. Wie gehen Sie mit solchen Relativierungen um?
 
Erstmal widersprechen wir selbstverständlich. Wir weisen auf die Gefahren hin, weil diese relativierenden Positionen oder Geschichtsrevisionismus, wie das ja häufig auch bezeichnet wird, in der Regel einhergeht mit fremdenfeindlichen, mit vielfalt-feindlichen Einstellungen. Und das geht wieder einher mit Vorstellungen von Homogenität, dass man eine Gesellschaft homogen gestalten könnte und alles, was fremd oder anders ist, ausschließen kann. Das halten wir für sehr gefährlich und versuchen selbstverständlich, durch unsere Stimmen und auch mit dem, was wir vor Ort machen, auf diese Zusammenhänge zumindest in Diskussionen einzugehen.
 
Wir sagen: Es gibt einen Grund, warum wir uns mit der Geschichte auseinandersetzen. Und der liegt unter anderem darin begründet, dass unsere Demokratie ein Erfahrungswert aus der nationalsozialistischen Vergangenheit ist. Unser Grundgesetz ist herausgeschrieben worden aus den furchtbaren Erfahrungen mit den NS-Gräueln. Man kann zeigen, wie fragil unsere Demokratie ist, wie verwundbar sie ist. Und das kann man sehr gut machen, indem man auch auf die Zeit 1932, 1933 verweist.
 
Wir werden häufig natürlich auch in Diskussionen mit Gruppen auf das Hier und Jetzt angesprochen und gefragt: Sehen Sie denn jetzt Parallelen? Wir tun alles, was in unserer Macht steht, um auf die Gefahr hinzuweisen, Geschichte zu relativieren und Fundamente unserer Demokratie anzugreifen.

Vielen Dank für das Gespräch.
 
Das Interview mit Axel Drecoll führten Amelie Ernst und Marie Kaiser.

Sendung: Radioeins, 22.04.2025, 07:40 Uhr