Das sowjetische Ehrenmahl in der Schönholzer Heide am 08.05.2025. Am 8. Mai 1945 endete nach der Unterzeichnung der bedingungslosen Kapitulation Deutschlands am Tag zuvor der Zweite Weltkrieg in Europa. (Quelle: dpa-Bildfunk/Sebastian Gollnow)

Berlin "Am Nachmittag des 9. Mai wird es unangenehm, vielleicht sogar gefährlich auf dem Gelände"

Stand: 09.05.2025 10:30 Uhr

Rund um den 9. Mai ist das sowjetische Ehrenmal in Berlin-Treptow ein symbolisch aufgeladener Ort. Jana Heinze von der Organisation Memorial macht dort kritische Führungen. Im Interview spricht sie von einer Instrumentalisierung des Gedenkortes.

Jana Heinze engagiert sich ehrenamtlich für die Menschenrechtsorganisation Memorial. Seit drei Jahren macht sie Führungen über das sowjetische Ehrenmal in Berlin-Treptow. Das riesige Areal mit viel Beton, großen Statuen und ein wenig Wiese will sie den Teilnehmern ihrer Führungen mit einem kritischen Blick erklären.
 
Am Tag des Interviews findet auch eine statt, zu der sieben Teilnehmerinnen und Teilnehmer kommen. In dieser Woche bietet Memorial ein umfangreiches Programm rund um das Gedenken an das Kriegsende vor 80 Jahren an.

rbb|24: Frau Heinze, Memorial bietet am sowjetischen Ehrenmal in Treptow sogenannte kritische Führungen an. Was zeichnet diesen kritischen Blick auf das bekannte Bauwerk aus?
 
Jana Heinze: Salopp gesagt feiern wir diese spätstalinistische Architektur nicht, sondern wollen sie dekonstruieren. Unsere Führungen sind kritisch, weil sie nicht nur die Architektur, die Kultur und die Geschichte des Zweiten Weltkrieges beschreiben, sondern weil wir uns auch ausgehend von diesen Dingen dem widmen, was es für die Menschen bedeutete und bedeutet.
 
Was also das damalige sowjetische System, der Krieg und die Art der anonymen Bestattung, die hier gewählt wurde, damals wie heute mit den Menschen macht. Wir führen über das Ehrenmal und versuchen mit den Teilnehmern zusammen, dieses zu dekonstruieren. Zum Beispiel weisen wir darauf hin, dass nicht ein einziger Name der 7.200 hier bestatteten Soldatinnen und Soldaten genannt ist, dafür aber sechzehn Mal der Name Stalin auftaucht.

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Steht das also im Zentrum Ihrer Kritik: Stalin ist sehr präsent und die gefallenen Soldatinnen und Soldaten kaum?
 
Seit mehreren Jahren ist Memorial Deutschland dabei, Politiker und die Gesellschaft darauf hinzuweisen, dass diese Anlage hier so wie sie ist, eigentlich nur Stalin abfeiert und sich um die Toten nicht bemüht. Wir fordern beispielsweise, die Stalin-Zitate hier zu kontextualisieren. Und dann muss man eben auch sagen: Viele Menschen, die hier her kommen, wissen gar nicht, dass das Ehrenmal überhaupt eine Grabstätte ist. In der Führung suchen wir deshalb gemeinsam die Grabstätten. Und ich kann Ihnen sagen: Nur bei zwei von zwanzig Führungen, die wir in den letzten Jahren gemacht haben, haben die Teilnehmer die Grabstätten tatsächlich selbst identifizieren können.

Im letzten Jahr konnte eine meiner Führungen von der Polizei nicht mehr abgesichert werden, weil die Polizei damit beschäftigt war, die "Nachtwölfe" über das Gelände zu geleiten.

Sie als Verein setzen sich auch dafür ein, die Namen der hier bestatteten Menschen zu recherchieren und bekannt zu machen. Wie schwer ist das?
 
Es wurde immer gesagt, dass die Namen, die von den hier bestatteten Menschen bekannt sind, in einem roten Ehrenbuch unter der Soldatenstatue stehen sollen. Das sollte in einer Krypta auf einer Stehle stehen. Bei all meinen Führungen gingen wir dorthin und versuchten, durch das Gitter schauend, das Buch zu entdecken. Bislang ist es uns noch nicht gelungen.
 
Wir haben also Politikerinnen und Politiker im Land Berlin angeschrieben und gefragt, wo das Totenbuch ist. Tatsächlich bekamen wir jetzt, am 23. April, Zugang zu dem Totenbuch in der zuständigen Senatsverwaltung. Da liegt es in einem gut verschlossenen Tresor. Wir durften es mit Baumwollhandschuhen vorsichtig öffnen, umblättern und Fotos machen. Uns wurden außerdem schon vorbereitete Listen mit den Namen der Toten von Treptow gegeben.
 
In dem Buch sind 2.300 Namen, dann gibt es noch eine Zusatzliste, mit Schreibmaschine getippt, auch die hat etwa zweieinhalb Tausend Namen. So kommen wir auf knapp 5.000 bekannte Namen von den 7.200 Bestatteten. Diese Namen, die in kyrillischer Schrift vorliegen, schreiben wir jetzt in lateinische Schrift um und werden einen Teil davon am 8. Und 9. Mai laut vorlesen auf der Anlage, um den Toten ihre Namen zurückzugeben.

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Wieso muss man überhaupt nach den Grabstellen suchen, wieso sind sie nicht in den Mittelpunkt gerückt worden, als das Ehrenmal errichtet wurde?
 
Das ist Teil des Konzeptes und darüber machen wir uns auch in der Führung Gedanken. Dass sie nicht im Mittelpunkt der Anlage stehen, kann man schon der Ausschreibung von 1946 entnehmen, da geht es um ein großes, heroisches Mahnmal der sowjetischen Befreiungsaktion für ganz Europa. Da ging es eigentlich darum, das System der Siegermacht Sowjetunion zu feiern und nicht die Leistung oder das Opfer der Einzelnen, die das vollbracht haben, indem sie im Befreiungskampf ihr Leben ließen. Die meisten waren 19 bis 25 Jahre alt.

Das Gedenken in Deutschland am 8. und 9. Mai hat sich in den letzten Jahren verändert, seit Russland die Ukraine im Frühjahr 2022 angegriffen hat. Russische Fahnen und Symboliken sind an diesen Tagen verboten an den Ehrenmälern, auch Staatsgäste nicht eingeladen. Für Ihre Arbeit sind die Daten dennoch wichtig, weil die Aufmerksamkeit besonders groß ist. Wie sehen Sie die Ambivalenz?
 
Dass Staatsgäste nicht eingeladen und Symboliken verboten sind, das halte ich für selbstverständlich. Dass es aber genug russischstämmige Privatpersonen am 8. und 9. Mai in Treptow gibt und in den letzten Jahren gab, die dort gedenken, das ist nicht zu übersehen.
 
Wenn man sich an die Regeln hält, ist jedem der Zugang gewährt, sogar die sogenannten "Nachtwölfe" kriegen ja jedes Jahr Zutritt. Im letzten Jahr konnte da sogar eine meiner Führungen von der Polizei nicht mehr abgesichert werden, weil die Polizei damit beschäftigt war, die "Nachtwölfe" über das Gelände zu geleiten. Man hat mir dann gesagt: Wenn es kritisch wird, dann müssten wir uns lauthals melden – und es wird immer kritisch am 9. Mai.

Was meinen Sie damit, dass es kritisch wird?
 
Wenn Sie da unterwegs sind und als Unterstützer der Ukraine zu erkennen sind, dann werden sie als Faschistin beschimpft und auch die Bespuckung ist nicht fern. Da halten die sich nur zurück, wenn Polizei in der Nähe ist. Das ist unangenehm und latent liegt eine Aggression in der Luft. Das ist mindestens seit drei Jahren am 9. Mai so.

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Memorial steht als unabhängige Menschenrechtsorganisation logischerweise in Opposition zu Vladimir Putin. In Russland wurde Memorial 2022 gerichtlich aufgelöst, mit dem Vorwurf, die Kennzeichnungspflicht für sogenannte "ausländische Agenten" verletzt zu haben. Russische Einflüsse reichen immer wieder auch nach Deutschland. Spüren sie den Hass aus Russland hier?
 
Wir verstecken uns nicht, egal wie es ist. Wir gehen raus mit unseren Führungen. Wir wollen und müssen die Auseinandersetzung aushalten, wer eine kritische Führung an so einem Ehrenmal anbietet, umgeht sie ja nicht. In diesem Sinne provozieren wir die Diskussionen geradezu. Wir werden aber bestärkt, indem es stetigen Zulauf gibt. Man bekommt schon böse E-Mails, aber wir kriegen auch viel Zuspruch.

Sehen Sie denn in Bezug auf den 9. Mai auch die Gefahr, dass das Gedenken von russischen Nationalisten instrumentalisiert wird?
 
Nicht nur die Gefahr. Das ist bereits seit Jahren auf dem Gelände des Ehrenmals in Treptow Realität. Auf unseren Führungen klären wir auf, dass der 9. Mai in den ersten Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg in der Sowjetunion nicht einmal ein Feiertag war. Die Militarisierung inklusive des Kults um den alleinigen Sieg, also ohne die Alliierten und die polnischen Truppenteile, begann erst zehn Jahre später.
 
Und erst nach dem Ende der Sowjetunion kamen die Menschen dann wieder zu persönlichem, zivilen Gedenken, übrigens auch an die zivilen Opfer. Heute, in Putins Russland, wird alles wieder staatlich gelenkt was Erinnerungskultur betrifft. Beispielsweise war zum letzten 9. Mai das Mit-sich-Tragen von Fotos der im Krieg Verstorbenen in Russland plötzlich verboten. Die Jahre davor war es noch staatlich gepusht worden, 2024 aber hatte man vermutlich Angst, dass manche auch die im Krieg gegen die Ukraine Verstorbenen mit sich herumtragen könnten.

Besucher, die am 9. Mai still gedenken wollen, die müssen mittlerweile vormittags kommen, denn am Nachmittag wird es unangenehm, vielleicht sogar gefährlich auf dem Gelände.

In Treptow allerdings waren diese Portraits im letzten Jahr wieder zu sehen. Ich habe da persönlich einen älteren Herren angesprochen, wen er denn da vor sich herum trägt und er sagte: Seinen Vater. Wir haben uns dann gewundert, dass der altersmäßig gar nicht im Zweiten Weltkrieg gewesen sein konnte. War er auch nicht, stellte sich dann heraus. Der Vater war in Afghanistan eingesetzt von der Sowjetunion. Wir haben Informationen von unseren Partnerorganisationen in Russland, dass diese Leute sogar Geld bekommen aus Russland, wenn solche Verwirrungsfotos hier gezeigt werden.
 
Die Instrumentalisierung Treptows ist also in vollem Gange. Besucher, die am 9. Mai still gedenken wollen, die müssen mittlerweile vormittags kommen, denn am Nachmittag wird es unangenehm, vielleicht sogar gefährlich auf dem Gelände.

Besucher und Polizeibeamte gehen am 08.05.2025 im sowjetischen Sowjetischen Ehrenmal Treptow in Richtung der haushohen Statue eines sowjetischen Soldaten. (Quelle: dpa-Bildfunk/Sebastian Gollnow)
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Hat sich denn infolge des Krieges etwas verändert am Interesse und der Akzeptanz für die Erinnerungsarbeit, die Sie machen, hier in Deutschland?
 
Es ist da so wie mit der politischen Haltung zu Putins Russland im Allgemeinen. Alle sind für das Thema erstmal aktiviert und damit nimmt das Interesse zu. In die eine oder andere Richtung: Wir wollen ja Aufklärung leisten über Stalinismus, Diktaturen und wie das heutige russische Regime konkret das Denkmal in Treptow benutzt. Wir als Memorial Deutschland standen von Anfang an für die Unterstützung der Ukraine in diesem Krieg.
 
Natürlich haben wir viele Teilnehmer, die wollen dahingehend aufgeklärt werden. Es gibt aber auch Teilnehmer, die wollen sich ihre Sowjetunion und ihre DDR möglichst weich waschen. Dazu bietet diese Anlage auch Ansatzpunkte. Insgesamt macht es die Führung aber auch interessanter, weil sich die Teilnehmer untereinander austauschen.
 
Vielen Dank für das Gespräch.
 
Das Interview führte Simon Wenzel.