
Berlin Theatertreffen "Die Maschine": Über allen Glipfen its Uhr
Beim Berliner Theatertreffen geht es mit sehr genau inszenierter Hochdruck-Komik weiter: In "Die Maschine oder: Über allen Gipfeln ist Ruh" wird ein Goethe-Gedicht zerlegt und nach diversen wilden Vorgaben neu zusammengesetzt. Von Fabian Wallmeier
Eines der bekanntesten Gedichte von Johann Wolfgang von Goethe geht - keine Angst, es ist sehr kurz - so: "Über allen Gipfeln / Ist Ruh / In allen Wipfeln / Spürest Du / Kaum einen Hauch; / Die Vögelein schweigen im Walde. / Warte nur! Balde / Ruhest du auch."
Was aber, wenn eine Maschine dieses Gedicht katalogisiert, neu berechnet und neu zusammensetzt? Wenn sie zum Beispiel jedes Wort an eine andere Stelle setzt? "Warte Vögelein nur / einen Gipfeln wipfeln über du" könnte es dann beginnen. Oder wenn sie die Konsonanten verschiebt? "Über allen Glipfen / its Uhr" hieße es dann.

Das mögen nicht die drängendsten Fragen der Welt sein, aber beim Berliner Theatertreffen wurden sie am Dienstag zu einem Ereignis der Theaterkomik: "Die Maschine oder: Über allen Gipfeln ist Ruh" vom Deutschen Schauspielhaus Hamburg spielt unzählige Optionen wie diese (und noch weitaus wahnwitzigere) genüsslich durch. Regisseurin Anita Vulesica hat den Text von Georges Perec für die Bühne adaptiert und lässt ihn von ganzkörperkomikbegabten Schauspieler:innen vortragen.
Immer aberwitziger
Treppenförmig von links nach rechts ansteigend sitzen sie an Tischen, ausgestattet mit Buzzern und Trichtern, die mit einer Art Rohrpostsystem verbunden. Oben rechts sitzt Sandra Gerling, die die Kommandos für die Neugestaltung des Goethe-Textes gibt, links daneben vier als "Speicher" bezeichnete höchst menschliche Computerwesen: Moritz Grove, Daniel Hoevels und Christoph Jöde, sowie ganz links unten der seinem Soundboard allerlei Musik und Geräusche entlockende Camil Jammal.
Die immer aberwitziger werdenden, jedem offenkundigen Sinn immer stärker entrückten Wort- und Klanggebilde sagen die Spieler:innen in ungemein genau getimtem Wechsel und mit großer Freude am Auskosten des Sinns und Unsinns auf. Und es ist eine helle Freude zu sehen, wie sie dabei auf ihren vielleicht einen Quadratmeter großen Treppen-Podesten leidenschaftliches Ganzkörpertheater spielen.

Ensemble / Eike Walkenhorst
Perecs Alter Ego
An zwei Stellen wird die Bühne gedreht und es tut sich jenseits der Tische eine unwirtliche Mondkraterlandschaft auf. Dort setzt sich der sechste Schauspieler auf einen Hochstuhl und beginnt, das Geschehen zu erklären und kommentieren: Yorck Dippe ist mit seinem langen Kinnbart und dem ausufernden Lockenkopf ganz klar ein Alter von Georges Perec, der hier aber nicht lange ordnend eingreift, sondern sich nach der nächsten Bühnendrehung mit zu den "Speichern" aufs Podest quetscht.
Man darf nicht nur wegen Dippes Maske davon ausgehen, dass Anita Vulesica sich mit Perec, einem experimentellen französischen Autor der Nachkriegszeit, auskennt - vor allem mit seiner lustigen Seite: Schon am Deutschen Theater Berlin, wo sie mal einige Jahre als begnadete Komödiantin im Schauspiel-Ensemble war, hat Vulesica im vergangenen Jahr sein durchaus auch als tiefschwarz und bedrohlich lesbares Stück "Die Gehaltserhöhung" als dralle absurde Slapstick-Komödie inszeniert - ein großer Spaß, ebenso wie ihre auch am DT zu sehende Bearbeitung von Eugène Ionescos "Die kahle Sängerin" (und mit Abstrichen auch "Der Liebling" von Svenja Viola Bungarten).
Allen dreien ist gemein, wie ultragenau sie gebaut sind in ihrer lustvollen Körperkomik, aber auch im schnellen Hin und Her der Sprecher:innen. Das trifft auch auf "Die Maschine" zu, obschon hier der Text noch viel mehr Spielerei ist.

Die Maschine
Beglückung statt Bedrückung
In seiner ultrapräzisen Bauweise erinnert Vulesicas Hamburger Perec-Inszenierung sogar entfernt an den zweiten Abend des Schauspielhauses, der in diesem Jahr zum Theatertreffen eingeladen wurde: "Bernarda Albas Haus" von Katie Mitchell, ein eiskaltes Stück Unerbittlichkeitstheater, mit dem das Festival am Freitag eröffnet wurde. Das ist dann aber auch wirklich die einzige Gemeinsamkeit. Vielmehr zeigt sich, wenn man beide Hamburger Inszenierungen nebeneinander legt, sogar, wie unterschiedlich Präzision im Theater sein kann: Bei Mitchell dient sie der Bedrückung, bei Vulesica der Beglückung.
Die Vorbilder sind offenkundig: Wer hochtourige Gaga-Abende wie "Murmel Murmel" oder "Pfusch", die Herbert Fritsch an der Berliner Volksbühne inszeniert hat, wird sich gleich daran erinnert fühlen. Auch die Handschrift von Claudia Bauer, in deren "Ursonate" Vulesica mal wieder als Schauspielerin auf der Bühne des Deutschen Theaters Berlin zu sehen ist, ist erkennbar. Vor allem im Vergleich zu Bauer kommen Vulesicas Arbeiten aber deutlich freundlicher daher.
Perecs Versuchsanordnung könnte man natürlich auch als Vorlage für eine Auseinandersetzung mit den Gefahren der künstlichen Intelligenz nehmen. Doch Vulesicas Abend interessiert sich dafür nicht sonderlich. Nur an ein paar Stellen lässt sie Reibungen zu: wenn etwa einer der vier Speicher plötzlich grundlegende Fragen ("Wer bin ich?") zu stellen beginnt, bevor er sich wieder dem hochtourigen Schlagabtausch der anderen anschließt.
Unerwartete Schönheit
Doch auch dabei ist "Die Maschine oder: Über allen Gipfeln ist Ruh" in keiner Weise didaktisch oder gar belehrend. Der Abend erhebt nicht den Zeigefinger gegen künstliche Intelligenz, sondern zeigt spielerisch ihre Grenzen auf. Noch mehr aber feiert er, wie aus formelhaften maschinellen Operationen unerwartete Schönheit entstehen kann.
Bei Perec, der "Die Maschine" eigentlich als Hörspiel schrieb, ist diese Schönheit sprachlicher Natur, wenn das Zerklüften, Zerrupfen und Neuzusammensetzen von Wörtern und Sätzen seltsame, nie gehörte tonliche Gebilde gebärt. Bei Vulesicas Überführung ins Theater kommt das Bild dazu. Vorn am Bühnenrand stehen zwei silbrige Gebilde von eigentümlicher Anmut: Aus Aluminiumrohren wie denen, die hinten die Rohrpost befördern, sind organische Strukturen gewachsen, wie in Flüssigilber getauchte und erstarrte Pflanzen stehen sie da. Und steckt nicht auch, in der Art, wie die "Speicher"-Wesen die Wörter zermalmen und ihnen aufgeregt mit dem ganzen Körper nachspüren, eine ungeahnte Erhabenheit? Sicher ist immerhin eines: Über allen Gipfeln ist Ruh. Oder its doch über allen Glipfen Uhr?