
Berlin Lesung | "In dieser Zeit" im SO36: Ein Flow, den niemand verbrennen kann
1933 verbrannten die Nazis in ganz Deutschland Bücher jüdischer, marxistischer oder pazifistischer Autorinnen und Autoren. Nun lasen im Berliner Punk-Club SO36 sechs Rapperinnen und Rapper Texte unter dem Titel "In dieser Zeit". Von Jakob Bauer
Das SO36 – legendärer Berliner Punk-Club – ist an diesem Donnerstagabend ausnahmsweise bestuhlt, oder eher: bebankt. Bierbänke stehen in Reihen, auf denen das typisch-bunte Kreuzberger Publikum zwischen 20 und 60 sitzt.
Auch die Bühne ist gediegen gestaltet. Nur ein kleiner, runder Tisch steht da und ein Stuhl. Die sechs Rapperinnen und Rapper, die hier gleich lesen, sind allesamt begnadete Performer, die bei ihren Hip-Hop-Konzerten die Massen zum Ausflippen bringen.
Texte von Autoren, deren Werke von den Nazis verbrannt wurden
An diesem Abend sind auch sie zurückhaltender. Malonda, Conny, Alice Dee, Amewu, BRKN und Ebow, die den Abend auch kuratiert hat, werden rezitieren. Texte von Autorinnen und Autoren, deren Werke 1933 von den Nazis verbrannt wurden: von Georg Kreisler und Mascha Kaléko, Hannah Arendt und Nelly Sachs, Bertolt Brecht und Kurt Tucholsky.
Eine spannende Idee der Veranstalter, dem Literaturhaus Berlin, dem Thomas-Mann-Haus und Villa Aurora in Los Angeles. Jakob Scherer von der Villa Aurora erklärt die Verbindung in seinen Grußworten kurz und bündig: "Nennt mir die wirkungsmächtigste Bewegung von Lyrik und Poesie der letzten Jahrzehnte und ich würde euch wahrscheinlich immer sagen: Es ist Hip Hop, es ist Rap."

Mit spöttischer Eleganz
Dann lesen sie – und es ist ein überraschend heiterer Beginn für diesen Abend, der ja auf so einem düsteren Anlass beruht. Aber eigentlich ist es auch nicht überraschend, denn die Autorinnen und Autoren hatten natürlich trotz schlimmer Umstände ihre scharfen Beobachtungsgaben genauso wenig verloren wie die Fähigkeit, alles, was um sie herum geschieht, mit Witz in pointierte Sprache zu fassen.
Etwa Mascha Kaléko, die mit spöttischer Eleganz in "Frühling über Berlin" bürgerliche Lebenswelten seziert, vorgetragen von Malonda: "Durch den Grunewald lustwandelt eine biedre Keglerschar, eine Laute wird misshandelt durch ein Wandervogelpaar. Sonntags geht’s mit der Verwandtschaft, meist jedoch mit Fräulein Braut, in die mär‘ksche Streusandlandschaft, wo man seinen Kaffee braut."
"Wir sind doch nicht da, um Krieg zu verhindern!"
Aber es geht auch viel um die innere und äußere Emigration. Um das Sich-Selbst-Verlieren, um Kinder im Krieg und um deren Mütter, um Gefühle von Fremdheit und um Rassismus, um glühendes Nationalbewusstsein und Kriegstaumel, wie in "Die Nation" von Georg Kreisler. "Wir sind da, um zu lügen, ermattet zu schlafen/Und alle die anders sind hart zu bestrafen/Die Schäfchen im Trockenen, die Frau mit den Kindern/Wir sind doch nicht da, um Krieg zu verhindern."
Es gibt Aufrufe zum Widerstand und die Frage, warum die Leute so feige seien. Und es geht um das Verhältnis von Europa zu den USA – viele der verbotenen Autorinnen emigrierten nach Nordamerika. Hier spätestens, wenn es in Kreislers "Außenpolitik" heißt: "Amerika ist beispiellos, ist groß und voller Kraft. Europa wäre gerne groß und hat’s doch nicht geschafft" sind wir mit den so vieldeutig lesbaren Texten der Vergangenheit in der Gegenwart angekommen.

Mal beklemmend vorgetragen, mal nur vorgelesen
Die Gedichte sind selten länger als zwei Minuten und toll ausgewählt – zwischen bekannten, aber niemals an Wirkung verlierenden Titeln und unbekannten Entdeckungen. Der Auftritt bleibt dabei dezent: sitzend, lesend. Heraus sticht vor allem der Rapper Amewu. Die Stimmung der Texte findet den Weg in seine Stimme, ist anfangs noch kritisch-distanziert, wenn er mit Brecht feststellt: "Das Unrecht geht heute einher mit sicherem Schritt."
Dann wird Amewus Vortrag aber immer eindringlicher, er endet mit Paul Celans Todesfuge, bei der er mit beklemmendem Flow die düster-berühmten Worte vorträgt: "Schwarze Milch der Frühe wir trinken dich nachts wir trinken dich mittags der Tod ist ein Meister aus Deutschland"
Hier geht das Konzept auf. Der Sprachfluss des Raps gibt dem Text eine besondere, auf diese Art selten gehörte Dringlichkeit. Aber nicht alle können da voll überzeugen, mal ist es eher vorgelesen als präsentiert, mal zu verhuscht und schnell vorgetragen. Gerade bei den komplizierten Gedichten fällt es so schwer zu folgen, eine Verbindung aufzubauen.
Hoffentlich gibt’s ein nächstes Mal
Trotzdem spürt man immer, wie wichtig die Texte den Vortragenden sind und das hat etwas Berührendes. Die Lesung stupst auf vielen Ebenen eher unaufdringlich an, als große emotionale Momente zu provozieren, das ist klug und gut und dem Gegenstand gegenüber angemessen so, aber man denkt auch – da wäre noch mehr drin. Vielleicht eine etwas abwechslungsreichere Dramaturgie, vielleicht auch noch ein paar eigene Gedanken der Interpretinnen und Interpreten zu den Texten. Und vielleicht kommt ja eine Fortsetzung, dann könnte daraus noch mehr werden als ein gelungenes Experiment.
Sendung: rbb24 Inforadio, 09.05.2025, 6:55 Uhr