
Syrien nach Assad Armut, Gewalt - doch die Hoffnung bleibt
Übergangspräsident al-Scharaa betont, das neue Syrien solle ein Land für alle Volksgruppen und Minderheiten sein. Doch wie geht es den Menschen in dem Land nach dem Sturz Assads? Von Anna Osius.
Am Grenzübergang Bab al-Salameh von der Türkei nach Syrien herrscht reger Betrieb. Bilder der Nachrichtenagentur Reuters zeigen Kleinlaster, bepackt mit Matratzen und Kleiderschränken, das Hab und Gut auf eine Ladefläche geschnürt: Menschen, die zurück in ihre Heimat wollen.
Auch Ahmed al Hadid beginnt ein neues Leben - zehn Jahre lang hat er in der Türkei gelebt. "Jetzt, wo Syrien befreit ist, kehren wir zurück", erzählt er. "Wir haben unsere Sachen gepackt, unsere Arbeit gekündigt und starten neu - es ist eine finale Rückkehr."
Täglich Rückkehrer
Und Ahmed ist bei Weitem nicht der Einzige. Rund 100.000 syrische Bürger seien bislang abgefertigt worden, berichtet ein Beamter am Grenzübergang.
"Die Zahlen steigen täglich, es sind momentan rund 1.000 am Tag", sagt er. "Wenn das türkische Schuljahr endet, rechnen wir noch mit deutlich höheren Zahlen."
Hoffen auf Aufschwung
Syrien sortiert sich neu. Wirtschaftlich hofft das bitterarme Land auf einen Aufschwung: Nachdem die USA und die EU angekündigt haben, die Sanktionen gegen Syrien aufzuheben, ist das Rennen um Investoren eröffnet. Vor allem die Türkei und die Golfstaaten, enge Verbündete der neuen islamistischen Machthaber Syriens, haben großes Interesse, das kriegszerrüttete Land aufzubauen.
So wollen Saudi-Arabien und Katar die Gehaltszahlungen für syrische Beamte unterstützen, und Katar kündigte an, die Energieversorgung wiederherzustellen: Vier Gaskraftwerke und eine Solaranlage sollen gebaut werden. Doch die Sieben-Milliarden-Dollar-Pläne für neue Kraftwerke werden wenig bewirken, wenn Damaskus bewaffnete Banden nicht daran hindern kann, Stromkabel zu stehlen.
"Wir haben mit der Instandsetzung von neun völlig zerstörten Masten begonnen", berichtet Khaled Abu Di von der syrischen Elektrizitätsbehörde. "20 bis 30 Kilometer vom Ort des ersten Schadens wurden wir von einem weiteren Diebstahl überrascht. Wir begannen mit der Reparatur. Wir waren noch nicht fertig, als sich etwas weiter der nächste Diebstahl ereignete." Bis heute konnte die Leitung nicht wieder in Betrieb genommen werden.
Aufbau als Mammutaufgabe
Zwei Drittel des Stromnetzes in Syrien sind entweder vollständig zerstört oder müssen dringend saniert werden. Für die Menschen bedeutet das: Wenn überhaupt, gibt es nur wenige Stunden Strom am Tag.
Der Wiederaufbau des Landes ist eine Mammutaufgabe. Das Land hat, neben den Kriegsschäden, jahrzehntelangen Sanierungsstau. Das merkt man auch an der Börse in Damaskus, die den Betrieb nach einem halben Jahr Pause nun wieder aufgenommen hat - in der Hoffnung, dass nach Ende der Sanktionen die Wirtschaft in Schwung kommt.
"Wir hoffen, dass wir von der Aufhebung der Sanktionen profitieren und unsere Systeme erneuern können", sagt Börsen-Manager Suleiman Mousselli. "Eine moderne Technik würde uns beim Handel und bei der Überwachung helfen."
Große Armut
Noch sind Aufschwung und Wirtschaftsboom nicht mehr als große Hoffnungen, denn die Realität der Syrerinnen und Syrer hat mit Wohlstand meist nichts zu tun. Die Vereinten Nationen mahnen: Ein Großteil der Bevölkerung lebt nach wie vor unterhalb der Armutsgrenze, also von weniger als zwei Dollar am Tag.
"16,5 Millionen Syrerinnen und Syrer brauchen humanitäre Hilfe", so Ramesh Rajasingham von OCHA, der UN-Behörde für die Koordinierung humanitärer Angelegenheiten. Mehr als die Hälfte der Bevölkerung hat Schwierigkeiten, sich ausreichend zu ernähren, fast drei Millionen sind von Hunger bedroht.
Gewalt gegen Minderheiten
Dazu kommen neue Wellen von Gewalt, die einige Regionen Syriens erschüttert haben und Zweifel an der Glaubwürdigkeit des Übergangspräsidenten Ahmed al-Scharaa aufkommen lassen. Der ehemalige Dschihadist gibt sich zwar als "Islamo-Kapitalist" und betont gemäßigt. Er beteuert, dass Minderheiten integriert werden sollen.
Doch die Realität sieht anders aus: Massaker an Alawiten im März, Gewalt gegen Drusen zwei Monate später, nun erneute Meldungen über tote und entführte Alawiten werfen die Frage auf, ob die Minderheiten in Syrien nicht genug geschützt werden. "Das Verstörende ist: Die Täter dieser Verbrechen kamen bislang ungestraft davon", so Nahost-Forscher Kawa Hassan vom Thinktank Stimson Center in Brüssel bei France24.
Es habe bisher keine offizielle Untersuchung der Vorfälle von Seiten der syrischen Regierung gegeben. "Das wirft Fragen auf: Wie weit ist die syrische Regierung überhaupt bereit, gegen religiös motivierte Gewalt vorzugehen?"
Christen sind besorgt
Behandeln internationale Politiker die neue syrische Regierung zu unkritisch? Hat al-Scharaa die islamistischen Strömungen und Milizen im Land nicht genug unter Kontrolle? Das Ziel, eine einheitliche Armee aufzubauen, scheint noch in weiter Ferne. Außerdem hat Israel durch zahlreiche Luftangriffe auf Syrien einen Großteil der militärischen Anlagen zerstört.
Auch ist noch nicht klar, wie sich die Autonomie der Kurden im Norden Syriens entwickelt - und die Christen des Landes machen sich Sorgen wegen islamistischer Tendenzen. "Das gab es so in Syrien noch nie", sagte der Bischof von Homs und Hama, Yulian Yakoub, vor einigen Wochen. "Wir fühlen uns wie Fremde in unserem eigenen Land. Das beeinträchtigt zweifellos die Freiheit des Einzelnen und die Menschenrechte."
Ein Thema, das im neuen Staatsfernsehen wohl kaum eine Rolle spielen wird. Der neue Fernsehsender erscheint zwar in modernem Gewand, bleibt aber Sprachrohr der Regierung und zeigt die deutliche Nähe der neuen Machthaber zur Türkei und zu den Golfstaaten.
Keine Pressefreiheit
Von tatsächlicher Pressefreiheit sei das Land noch weit entfernt. "Die Pressefreiheit ist eng mit der politischen Lage im Land verknüpft", sagt der syrische Journalist Mazen Bilal. "Solange es noch keine klare Definition des Staates gibt, kann sich keine Freiheit für die Medien entwickeln."
Äußerlich scheine die Freiheit größer zu sein als vorher. "Aber wir müssen das mit Vorsicht genießen, denn das gesamte politische System muss sich erst noch herauskristallisieren."
Ein Staat steckt in den Kinderschuhen und wohin diese Syrien ein halbes Jahr nach Assads Sturz tragen, ist noch unklar.