Studierende sitzen in einem Hörsaal der Ludwig-Maximilians-Universität in München.

Fachkräftemangel am Arbeitsmarkt  Ist Deutschland überakademisiert?

Stand: 28.05.2025 07:43 Uhr

Mehr als 2,8 Millionen junge Menschen studieren, viele von ihnen erreichen keinen Abschluss. Gleichzeitig gibt es viele offene Ausbildungsplatzangebote. Verschärft dieses Ungleichgewicht den Fachkräftemangel? 

Alexandra Gilles schaut nochmal über eine Tabelle und klappt dann ihren Laptop zu. Im Norden von Rheinland-Pfalz arbeitet die 25-Jährige beim Maschinenbauer Erlenbach - einem Spezialisten für Partikelschaumverarbeitung. "Ich kenne den Betrieb bereits seit vielen Jahren. Erste Berufserfahrung habe ich schon in der Schulzeit im Rahmen von Ferienjobs gesammelt. Auch deshalb war nach meinem Abitur für mich klar: Ich studiere nicht, sondern mache eine Ausbildung", sagt sie.

Alexandra Gilles ist Industriekauffrau und arbeitet in der Personalabteilung der Firma. Hier hat sie nach der Schule ihre Ausbildung gestartet. "Es war eine ganz bewusste Entscheidung - gegen die Universität. Nach der Schule hatte ich genug von Theorie. Ich wollte endlich praktisch lernen und arbeiten." In ihrem Freundeskreis hätten viele ein Studium begonnen. Teils habe es dort auch Unverständnis gegeben. "Gesellschaftlich gibt es einen gewissen Druck, mit Abi automatisch zu studieren. Meiner Meinung nach wird das Studium aber über- und die Ausbildung unterschätzt", so Gilles.

Kontakte zum Maschinenbauer hatte die 25-Jährige schon in ihrer Schulzeit geknüpft. Sie hatte sich etwa über die Industrie- und Handelskammer Koblenz über Ausbildungswege und weitere Qualifizierungsprogramme informiert. Beim Maschinenbauer Erlenbach machte Alexandra Gilles zunächst die Ausbildung zur Industriekauffrau, qualifizierte sich dann weiter zur Personalreferentin und schloss dann über ein Fernstudium den Bachelor im Bereich Personalmanagement ab. "Die Universität war für mich zu unstrukturiert. Viele fangen ja auch irgendwas an und wissen selbst nach vielen Semestern nicht, welchen Beruf sie später ausüben wollen. Ich habe meine Entscheidung auf jeden Fall noch nie bereut."

Gute Gehälter auch im dualen System

Holger Bentz ist Geschäftsführer der Industrie- und Handelskammer Koblenz, dort zuständig für die Aus- und Weiterbildung. Bei ihm hatte sich auch Alexandra Gilles informiert. "Trotz schwieriger wirtschaftlicher Lage gibt es in unserer Region weiter eine hohe Nachfrage nach Azubis und offenen Ausbildungsplätzen", erklärt Bentz. Er hat zahlreiche Kampagnen der IHK für mehr Ausbildung mit initiiert. "Unser Ziel ist, gezielt junge Menschen mit Hochschulreife anzusprechen und für eine Ausbildung zu interessieren", erklärt er. Bentz hat mehr als 130 Berufe "im Portfolio" - vom Bank- bis zum Versicherungskaufmann.   

In Rheinland-Pfalz gibt es seit drei Jahren wieder mehr Azubis im ersten Ausbildungsjahr als Studierende im Erstsemester. Bentz führt das auch auf das intensive Werben der Industrie- und Handelskammern in Rheinland-Pfalz zurück. "Entscheidend für unsere guten Zahlen ist, dass es nach der dreijährigen Ausbildung mit weiteren Qualifikationen weitergehen kann", so Bentz. "Das Niveau der Abschlüsse der Höheren Berufsbildung entspricht dem Bachelor- oder Masterniveau an der Universität - oftmals inklusive Gehaltsniveau." 

Diese Botschaft müsse verstärkt bei den jungen Menschen ankommen. "Es hängt aber natürlich auch vom individuellen Einsatz der jeweiligen Absolventen ab." Der Kampf um Fachkräfte werde sich künftig nochmal verschärfen, prognostiziert Bentz. "In den kommenden Jahren fehlen in Rheinland-Pfalz jährlich rund 50.000 Fachkräfte. Bundesweit ist der Trend ähnlich."

Reformen für besseres Image

Jonas Hennrich hat genaue Zahlen zum deutschen Ausbildungsmarkt. Beim Wirtschaftsforschungsinstitut ifo in München ist der Fachreferent zuständig für Makroökonomik und Befragungen. Regelmäßig schickt Hennrich Fragenkataloge an Personalleiter in ganz Deutschland. "Der Wille zur Ausbildung junger Menschen ist da. Nach unserer letzten Umfrage wollen das 85 Prozent. Aber fast zwei Drittel - nämlich 61 Prozent - haben Probleme, Bewerber zu finden", erklärt Hennrich. Der Druck sei mittlerweile so groß, dass die große Mehrheit der Firmen deshalb auch eine Reform der Berufsausbildung fordern.

"Die Unternehmen wollen modernere Berufsschulen und Lehrpläne. Es geht vor allem um ein besseres Image der Berufsausbildung", sagt der ifo-Forscher. Etwa sollten Lehrpläne an die Anforderungen der aktuellen Arbeitswelt angepasst werden.

Zudem müssten Berufsschulen und Ausbildungsbetriebe verstärkt zusammenarbeiten. "Die Kooperation könnte dazu beitragen, die Kluft zwischen Theorie und Praxis zu überbrücken", so Hennrich. Je kleiner ein Unternehmen sei, desto schwieriger werde es, an Azubis zu kommen, so Hennrich. "Mehr als die Hälfte der kleinen Betriebe finden keine jungen Leute zur Ausbildung", erklärt Hennrich. Dabei spiele die Ausbildung eine entscheidende Rolle für die Stabilität des Arbeitsmarktes, denn Azubis seien die Zukunft der deutschen Volkswirtschaft.

Fachkräfte künftig immer gefragter

Achim Dercks analysiert den Ausbildungs- und den Arbeitsmarkt und die Abhängigkeit zueinander schon seit Jahrzehnten. Er ist stellvertretender Hauptgeschäftsführer des Deutschen Industrie- und Handelskammertages in Berlin. "Die demografische Entwicklung stellt unsere Unternehmen vor große Herausforderungen. Im kommenden Jahr haben wir knapp 750.000 Schulabgänger und damit rund 200.000 weniger als noch vor 20 Jahren", so Dercks.

Aus seiner Sicht streben zu viele junge Leute nach der Schule in die Unis. "Früher lag die duale Ausbildung tatsächlich weit vorn. Noch 1992 begannen fast doppelt so viele Jugendliche eine Ausbildung wie ein Hochschulstudium. Der rasante Anstieg der Studierendenzahlen ist vor allem damit zu erklären, dass immer mehr Schüler die Hochschulreife erwerben."

Auch Achim Dercks glaubt - ebenso wie Alexandra Gilles -, dass für viele ein anderer Weg besser wäre. "Rund jeder vierte deutsche Studienanfänger im Bachelor-Studiengang verlässt die Hochschule ohne Abschluss. Das sind mehr als 100.000 junge Leute pro Jahr, von denen viele in einer dualen Ausbildung vermutlich besser aufgehoben wären."

Trendwende in Sicht?

Derzeit beobachtet Dercks aber eine Trendumkehr. Der Anteil der Abiturienten unter den Azubis steige wieder. "Im letzten Jahr gab es rund 490.000 Studienanfänger und ca. 487.000 Ausbildungsanfänger in den Betrieben. Damit liegen die Zahlen der Studienanfänger und Ausbildungsanfänger im dualen System etwa gleichauf. Es gibt außerdem noch weit über 150.000 junge Menschen, die sich für eine Ausbildung in den Gesundheits-, Pflege und Sozialberufen entscheiden."

Dennoch: Im vergangenen Jahr blieben laut DIHK rund 70.000 Ausbildungsplätze unbesetzt. "Fehlende Fachkräfte sind nicht nur für die Betriebe ein erhebliches Risiko, sondern gleichzeitig für die wirtschaftliche Entwicklung des ganzen Landes", warnt Dercks. "Gerade mit Blick auf Megatrends wie Digitalisierung, KI und Klimapolitik ist Deutschland auf qualifizierte Fachkräfte angewiesen."