Eine Frau unterstützt einen älteren Mann beim Treppensteigen in einem Treppenhaus.
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Verhinderungspflege "Ideale Bedingungen für Betrüger"

Stand: 22.05.2025 06:01 Uhr

Pflegebedürftige können 2.500 Euro bekommen, wenn Angehörige eine Pause benötigen. Die Kassen geben für die Verhinderungspflege jedes Jahr Milliarden aus. Doch weil es kaum Kontrollen gibt, steigt nach Recherchen von NDR, WDR und SZ der Missbrauch.

Von Daniel Drepper und Markus Grill, NDR/WDR

Wenige Sozialausgaben erleben derzeit so einen Boom wie die sogenannte Verhinderungspflege. Die Idee: Wenn ein pflegender Angehöriger Urlaub machen möchte oder eine Pause braucht, zahlt die Pflegekasse bis zu 2.500 Euro pro Jahr, damit eine andere Person, sei es der Nachbar oder ein entfernter Verwandter, einige Wochen als Ersatz einspringen kann.

Im Jahr 2022 gaben die Pflegekassen für diese Leistung 2,1 Milliarden Euro aus, 2023 waren es schon 2,6 Milliarden, im vergangenen Jahr schließlich 3,1 Milliarden Euro - ein Anstieg von mehr als 20 Prozent pro Jahr.

"Großangelegter Sozialleistungsmissbrauch"

Doch nicht nur Betroffene nutzen diese Leistung. Immer häufiger wird Verhinderungspflege beantragt, ohne dass sie tatsächlich stattgefunden hat. Im bisher vertraulichen Abschlussbericht der "Bund-Länder-Projektgruppe Abrechnungsbetrug im Gesundheitswesen", den das Bundeskriminalamt Mitte März erstellt hat, wird nach Informationen von NDR, WDR und Süddeutscher Zeitung (SZ) ausdrücklich auf die "Schwächen und Mängel bei der Durchführung von Verhinderungspflege" hingewiesen.

Weil die Anträge und Abrechnungen für die Leistung sehr simpel sind und es zudem fast keine Kontrollen gebe, habe man bei dieser Leistung "hohe Tatgelegenheitsstrukturen geschaffen".

Der Spitzenverband der Gesetzlichen Krankenkassen räumt auf Nachfrage ein: "Problematisch ist weniger das Fehlverhalten einzelner Versicherter, sondern organisierte Clankriminalität in Form von großangelegtem Sozialleistungsmissbrauch."

Internes Wissen zunutze gemacht

In einem besonders drastischen Fall erhob die Staatsanwaltschaft Bayreuth nun Anklage wegen Betrugs. Nach Informationen von NDR, WDR, SZ und Plusminus beantragte demnach eine Pflegeberaterin in Bayreuth für rund 100 Versicherte Verhinderungspflege.

Von den 150 Ermittlungsverfahren, die auch die Seniorinnen und Senioren betrafen, seien inzwischen 25 Verfahren abgeschlossen worden, die Betroffenen seien zu Geldstrafen und Freiheitsstrafen auf Bewährung verurteilt worden. Gegen die hauptbeschuldigte Pflegeberaterin, die einen Großteil der Gelder für sich abgezweigt haben soll, muss das zuständige Landgericht erst noch über die Zulassung der Anklage entscheiden.

Das Pikante an dem Fall ist, dass die mutmaßliche Betrügerin sich internes Wissen zunutze machen konnte. Sie hatte zuvor ein Praktikum bei der Pflegekasse der AOK Bayern absolviert. Ihr Anwalt ließ schriftliche Nachfragen unbeantwortet.

"Enorm hohe Dunkelziffer"

Dominik Schirmer, der bei der AOK Bayern viele Jahre die Stelle für Fehlverhalten geleitet hat, sagt, dass allein seine AOK "im Bereich der Verhinderungspflege um 360.000 Euro geschädigt wurde". Und: "Uns ist vollkommen bewusst, dass es eine enorm hohe Dunkelziffer in diesem Bereich gibt."

Nicht nur in Bayern, bundesweit berichten Pflegekassen von Betrug bei der Verhinderungspflege. Gesetzlich sind die Kassen dazu verpflichtet, alle zwei Jahre einen Bericht über die Bekämpfung von Fehlverhalten im Gesundheitswesen zu erstellen.

Entdeckung meist durch Zufall

NDR, WDR und SZ hatten diese Berichte von allen großen Kassen angefordert. Wertet man die neuesten Berichte aus, findet man bei jeder zweiten Krankenkasse Fälle von Missbrauch in der Verhinderungspflege. Die Kassen haben Stellen zur Bekämpfung von Fehlverhalten eingerichtet, die Hinweisen auf Unregelmäßigkeiten nachgehen.

Den Betrug entdecken die Kassen meistens, wenn überhaupt, nur durch Zufall in den Abrechnungsdaten, wenn etwa für eine pflegebedürftige Person Verhinderungspflege in Anspruch genommen wurde, obwohl sie zu dieser Zeit im Krankenhaus lag. Oder, weil dutzendfach die gleiche Kontonummer angegeben wurde, auf die die Zahlungen erfolgen sollte oder auch, weil die angebliche Ersatzpflegeperson für mehr als zehn Pflegebedürftige an unterschiedlichen Orten gleichzeitig im Einsatz war.

Nicht alle geben Berichte heraus

Im Gesamtbericht aller Kassen, den der GKV-Spitzenverband veröffentlicht hat, findet sich der Hinweis, "dass zunehmend Anträge von Versicherten auf Erstattungsleistungen aus der Pflegeversicherung auffallen, die den Charakter eines gewerbs- und bandenmäßigen Betrugs haben, teilweise sogar der organisierten Kriminalität zugeordnet werden müssen."

Doch nicht alle gehen mit der Betrugsbekämpfung transparent um. So verweigerte etwa die AOK Baden-Württemberg als einzige AOK die Herausgabe des Berichts und teilte mit: "Ein Fehlverhaltensbericht der AOK Baden-Württemberg ist nur für interne Zwecke und nicht für eine Veröffentlichung bestimmt." Auch die größte deutsche Krankenkasse, die TK, weigerte sich, ihren Fehlverhaltensbericht herauszugeben.

Unwissen von Pflegebedürftigen ausgenutzt

Im LKA Berlin ist Kriminalhauptkommissar Frank Warnhoff zuständig für Pflege. Er sagt: "Der Betrug in diesem Bereich ist sehr lukrativ, weil es sehr einfache Anträge sind." Die Pflegekasse überweise formlos das Geld, obwohl tatsächlich überhaupt keine Verhinderungspflege stattgefunden habe.

Gerade in Berlin seien es "oft Tätergruppen mit Migrationshintergrund", sagt Warnhoff. Das heißt, die eigentlich Pflegebedürftigen geben, weil sie nicht gut Deutsch sprechen und sich mit Anträgen nicht gut auskennen, einer Person eine Vollmacht, die dann in ihrem Namen Verhinderungspflege beantragt, das häufig als "Urlaubsgeld von der Pflegeversicherung" angepriesen werde.

Die Seniorinnen und Senioren "erhalten dann vielleicht eine Kick-Back-Zahlung von 100 oder 200 Euro und der Rest der Zahlung behält die Tätergruppe ein."

Ermittler in Sorge

Am 1. Juli dieses Jahres wird der Geldbetrag für Verhinderungspflege zusammengefasst mit der Pauschale für Kurzzeitpflege. Der Betrag, den Pflegebedürftige dann pro Jahr erhalten können, erhöht sich auf 3.500 Euro. Beschlossen hat das noch die alte Bundesregierung.

Doch Ermittler sehen das mit Sorge. Denn so schön die Erhöhung für die wirklich Betroffenen ist, so schön ist die Erhöhung auch für die Betrüger. "Die Erhöhung erhöht natürlich auch den Anreiz für die Tätergruppen, noch mehr betrügerische Anträge zu stellen", sagt LKA-Mann Warnhoff, "weil ich davon ausgehe, dass sich die Kontrollmöglichkeit der Behörden in nächster Zeit nicht steigern lässt".

Auch Oberstaatsanwalt Thomas Gritscher, der bei der Staatsanwaltschaft Berlin die Abteilung für Betrug im Gesundheitswesen leitet, ist skeptisch. "Wenn das jetzt erhöht wird, dann wird das schlimm", sagt er.

Forderung der Betroffenen

Das Bundesgesundheitsministerium dagegen rechtfertigt die Erhöhung auf 3.500 Euro. Damit sei die Politik "einer langjährigen Forderung insbesondere der Vertreter von Pflegebedürftigen und pflegenden Angehörigen" gefolgt.

Das Ministerium verspricht sich eine gewisse Kontrolle davon, dass den Pflegebedürftigen nach Auszahlung der Leistung nun eine schriftliche Übersicht über die Zahlung zugesandt werde. Damit werde "die Kotrollmöglichkeit der Pflegebedürftigen und ihrer Angehörigen verbessert", versichert der Sprecher von Gesundheitsministerin Nina Warken (CDU).

Zudem verweist das Ministerium auf die Fehlverhaltensstellen bei den Pflegekassen. "Diese gehen entsprechenden Hinweisen nach und klären Sachverhalte auf."

Erinnerung an Corona-Testcenter

Bei der Staatsanwaltschaft haben sie den Eindruck, dass es bei der Verhinderungspflege ein bisschen läuft wie bei den Corona-Testcentern in der Amtszeit des damaligen Ministers Jens Spahn (CDU): Erst vergisst man, die Kontrollen einzubauen und lobt sich für das unbürokratische Vorgehen und wenn dann massenhafter Missbrauch passiert, sollen es Polizei und Staatsanwaltschaft richten.

"Für die Strafverfolgungsbehörden ist das relativ verheerend", sagt Oberstaatsanwalt Gritscher. Seine Abteilung sei noch heute mit den Ermittlungsverfahren wegen fiktiver Corona-Tests befasst. Ein Staatsanwalt könne nicht Kostenprüfungen für Pflegekassen vornehmen, dazu brauche es vorher klare Regeln.

Gritscher sagt: "Es sind im Gesundheitswesen sowieso, aber auch im Bereich der ambulanten Pflege und erst recht im Bereich Verhinderungspflege ideale Bedingungen für Betrüger."

Mehr zum Thema sehen Sie heute um 21:45 Uhr bei Plusminus im Ersten

Anna Klühspies, NDR, tagesschau, 22.05.2025 06:19 Uhr