Alexander Dobrindt

Verfassungsschutzbericht 2024 Mehr Bedrohung von rechts und links

Stand: 10.06.2025 11:03 Uhr

Extremismus, Terrorismus und Spionage: Der Verfassungsschutz hat seinen Bericht für 2024 vorgestellt. Das Papier steht auch unter dem Eindruck des Rechtsstreits mit dem rechtsextremen Compact-Magazin.

Von Claudia Kornmeier, ARD-Hauptstadtstudio

Während Innenminister Alexander Dobrindt in Berlin erklärt, welche Extremisten sein Haus und das Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) für besonders gefährlich halten, müssen seine Anwälte in Leipzig das Vorgehen in einem dieser Fälle verteidigen: beim Compact-Verbot. Beim Bundesverwaltungsgericht beginnt dazu heute die mündliche Verhandlung.

Dominic Hebestreit, ARD Berlin, zu Verfassungsschutz meldet wachsende Gefahr durch Extremisten

tagesschau, 10.06.2025 12:00 Uhr

Das Unternehmen, das das Compact-Magazin herausgibt, war vom Verfassungsschutz seit einigen Jahren erst als rechtsextremistischer Verdachtsfall, dann als gesichert rechtsextremistisch eingestuft und beobachtet worden.

Im Juli 2024 entschied sich das Bundesinnenministerium für ein Verbot. Eine wichtige Rolle von Compact liege in der Popularisierung und weitreichenden Verbreitung rechtsextremistischen Gedankenguts, hieß es zur Begründung. Das Bundesverwaltungsgericht setzte die Vollstreckung des Verbots jedoch vorläufig aus. Nun muss endgültig entschieden werden.

Rechtsextremismus

Compact ist einer der Akteure, den der Verfassungsschutz im Bereich Rechtsextremismus im Blick hat. Gemessen an den Zahlen ist der Rechtsextremismus nach wie vor die größte Gefahr - eine Einordnung, auf die Innenminister Dobrindt (CSU) anders als seine Vorgängerin Nancy Faeser (SPD) im Vorwort des Verfassungsschutzberichts 2024 verzichtet. Der Verfassungsschutz schätzt das rechtsextremistische Personenpotenzial auf 50.250 Menschen - das sind 10.000 mehr als 2023. Darunter seien rund 15.300 gewaltbereite Personen - etwa 1.000 mehr als im Vorjahr.

Rechtsextremismuspotenzial laut Verfassungsschutz
2022 2023 2024
Insgesamt in Parteien 15.500 16.300 25.000
  • "Die Heimat" (vormals NPD)
3.000 2.800 2.500
  • "Freie Sachsen"
- - 1.200
  • "Der III. Weg"
700 800 950
  • Verdachtsfall "Alternative für Deutschland" (AfD) mit "Junge Alternative" (JA)
10.200 11.300 20.000
  • Sonstiges rechtsextremistisches Personenpotenzial in Parteien
1.150 1.100 350
In parteiunabhängigen oder parteiungebundenen Strukturen 8.500 8.500 8.500
Weitgehend unstrukturiertes rechtsextremistisches Personenpotenzial 16.000 17.000 18.000
Summe nach Abzug von Mehrfachzuordnungen 40.000 41.800 51.500
Davon gewaltorientierte Rechtsextremisten 14.000 14.500 15.300

Besonders stark gestiegen ist das Personenpotenzial innerhalb der Parteien - wobei hier insbesondere AfD-Mitglieder zu Buche schlagen. Der Verfassungsschutz geht davon aus, dass mit steigender Mitgliederzahl auch die Zahl extremistischer Personen innerhalb der Partei zugenommen hat. Liberalkonservative Positionen seien öffentlich kaum noch wahrnehmbar, während Positionen des "solidarisch-patriotischen" Lagers zumeist unwidersprochen vertreten würden. Zunehmend sei eine internationale Vernetzung zu beobachten sowie, dass die Grenzen zwischen Partei und Vorfeldorganisationen verschwämmen.

Die AfD ist im Verfassungsschutzbericht weiterhin als rechtsextremistischer Verdachtsfall gelistet. Gegen eine Hochstufung durch den Verfassungsschutz ist sie gerichtlich vorgegangen. Die Behörde hatte daraufhin in einer Stillhaltezusage erklärt, die AfD bis zu einer Entscheidung des Gerichts nicht als gesichert rechtsextremistische Bestrebung einzustufen und zu bezeichnen.

Eine "besorgniserregende Entwicklung" seien Agitation und Angriffe auf queere Menschen, seit Juni 2024 insbesondere im Zusammenhang mit dem Christopher Street Day (CSD). Bundesweit, vor allem aber in Sachsen und Sachsen-Anhalt, hatte es rechtsextremistische Störaktionen gegeben. Der Verfassungsschutz beobachtet, dass als Organisatoren vermehrt gewaltorientierte rechtextremistische Online-Gruppierungen aufgetreten sind.

Finanziell gewännen in der rechten Szene Spenden zunehmend an Bedeutung. Einzelne Großspender - auch aus dem Ausland - finanzierten kostspielige Projekte. Insbesondere für Kampagnen zur Diffamierung von Politikerinnen und Politikern und anderen Personen des öffentlichen Lebens sowie zur gezielten Steuerung der öffentlichen Meinung würden teils außergewöhnlich hohe Summen aufgewandt.

Linksextremismus

Im März 2024 brannte ein Hochspannungsmast in der Nähe des Tesla-Werks Grünheide. Bei Tesla wurde die Produktion unterbrochen, aber auch die umliegenden Gemeinden waren von Stromausfällen betroffen. Zu der Tat bekannte sich die als linksextremistisch eingestufte Vulkangruppe.

Linksextremisten verübten in Deutschland "nahezu täglich" Straf- und Gewalttaten, heißt es im Verfassungsschutzbericht. Linksextremistische Gewalt weise eine hohe Brutalität auf - verbunden mit einer "äußerst gezielten und professionellen Umsetzung". Dabei würden auch potenziell tödliche Verletzungen in Kauf genommen. Das Personenpotenzial schätzt der Verfassungsschutz auf 38.000 Menschen, darunter 11.200 gewaltbereite.

Linksextremismuspotenzial laut Verfassungsschutz
2022 2023 2024
Gewaltorientierte Linksextremisten 10.800 11.200 11.200
Davon Autonome 8.300 8.300 8.600
Nicht gewaltorientierte dogmatische und sonstige Linksextremisten 27.600 27.800 28.800
Summe nach Abzug von Mehrfachzuordnungen 36.500 37.000 38.000

Durch Sabotage, Sachbeschädigung und Brandstiftung entstehe jährlich ein Sachschaden in "mehrstelliger Millionenhöhe". Das schade dem Wirtschaftsstandort Deutschland. Hinzu komme: Angriffe auf die Infrastruktur treffe zunehmend auch die Bevölkerung durch Ausfälle bei der Energieversorgung, der Telekommunikation oder Bussen und Bahnen.

Der Verfassungsschutz geht davon aus, dass es auch künftig "zahlreiche Angriffe auf Unternehmen und kritische oder sonstige Infrastrukturen" geben wird. Die Wahlerfolge und hohen Umfragewerte der AfD belegten in den Augen gewaltbereiter Linksextremisten, dass ein gewaltfreies Engagement gegen die rechte Szene unwirksam sei.

Bei "ungehindertem Fortgang der Radikalisierung" könnte ein "neuer Linksterrorismus" entstehen, der zu weiterer Gewalt gegen Staat und Polizei führen könnte. Diese Einschätzung war bereits im Verfassungsschutzbericht 2023 enthalten.

Islamismus

Im vergangenen Sommer hatten mehrere Anschläge das Land erschüttert. Die Gefährdung durch islamistischen Terrorismus sei "anhaltend hoch". Nach wie vor seien israelische und jüdische Ziele besonders gefährdet - wegen des Kriegs in Gaza.

Im Blick hat der Verfassungsschutz weiterhin den "Islamischen Staat" (IS). Die Terrormiliz setze zum einen auf geschulte Täter, die als Gruppe komplexe Anschläge durchführten, und zum anderen auf Einzeltäter, die im Internet rekrutiert oder radikalisiert würden und mit leicht verfügbaren Mitteln wie Messern oder Fahrzeugen Anschläge verübten. Für Letzteres seien die Anschläge von Mannheim und Solingen Beispiele.

Das Personenpotenzial liegt aus Sicht des Verfassungsschutzes bei 28.280 Menschen, darunter 9.540 gewaltbereite Personen. Die Behörde beobachtet außerdem, dass Minderjährige eine immer größere Rolle spielten. So wurden im Frühjahr vier Jugendlichen im Alter von 15 und 16 Jahren aus Nordrhein-Westfalen und Baden-Württemberg festgenommen, die sich online zu Anschlägen auf christliche und jüdische Einrichtungen verabredet haben sollen.

Delegitimierung

Die Kategorie "verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates" taucht auch in diesem Verfassungsschutzbericht wieder auf. Sie war 2021 eingeführt und seitdem kritisiert worden.

Erfasst werden sollen in dieser Kategorie Bestrebungen, die wesentlichen Verfassungsgrundsätze außer Kraft zu setzen oder die Funktionsfähigkeit des Staates oder seiner Einrichtungen zu beeinträchtigen. Es geht darum, demokratische Entscheidungsprozesse und Institutionen verächtlich zu machen oder - wenn dazu aufgerufen wird - behördliche oder gerichtliche Anordnungen und Entscheidungen zu ignorieren.

Aus Sicht von Kritikern geht das zu weit. Zu einfach könne dadurch auch legitime Kritik an der Regierung oder an staatlichen Institutionen davon erfasst werden.

Spionage

Zunehmend in den Fokus gerückt ist in den vergangenen Jahren eine weitere Aufgabe des Verfassungsschutzes: die Beobachtung von Spionage, Desinformation, ausländischer Einflussnahme und Sabotage. Russland, China, Iran und die Türkei seien dabei unverändert die Hauptakteure. Die Zahl der Hinweise auf russische Sabotage sei 2024 "erheblich" gestiegen. In mehreren Fällen ermittelt der Generalbundesanwalt.

Vor der Bundestagswahl hatte der Verfassungsschutz wiederholt vor ausländischer Einflussnahme gewarnt. In dem aktuell vorgestellten Jahresbericht spielt das noch keine große Rolle. Der Verfassungsschutz hatte aber bereits im April mitgeteilt, dass es zwar nicht so schlimm gekommen sei wie befürchtet. Russland habe sich aber als Hauptakteur bestätigt.

Videos, Text- und Bildbeiträge mit Fehlinformationen seien verbreitet worden, zum Teil mit Künstlicher Intelligenz generiert - meist gerichtet gegen einzelne Parteien beziehungsweise Personen. Dabei seien die für Russland eher vorteilhaften politischen Positionen, Personen und Parteien durch positive Darstellungen unterstützt worden - und umgekehrt.

Vakante Spitze

Außergewöhnlich ist, dass der Innenminister den Verfassungsschutzbericht dieses Jahr nicht gemeinsam mit dem Verfassungsschutzpräsidenten vorstellt, sondern mit dem BfV-Vize Sinan Selen. Die Spitze der Behörde ist seit dem gescheiterten Versuch von Thomas Haldenwang, für die CDU in den Bundestag einzuziehen, verwaist.

Faeser wollte den Posten ursprünglich schnell nachbesetzen. Daraus ist jedoch nichts geworden. Ihr Nachfolger lässt sich damit nun Zeit.

Uli Hauck, ARD Berlin, tagesschau, 10.06.2025 11:41 Uhr