
Nordrhein-Westfalen Kommentar: Heilsamer Schock für Merz und die neue Bundesregierung
Dass Friedrich Merz erst im zweiten Wahlgang zum Kanzler gewählt wurde, bedeutet nicht den Untergang Deutschlands. Ein Kommentar.
Was für eine Aufregung vor allem in Berlin: Da war Friedrich Merz im ersten Durchgang nicht sofort zum Bundeskanzler gewählt worden und schon befürchtete der eine oder andere den Untergang der Bundesrepublik Deutschland. Die dunkelste Vergangenheit wurde beschworen, daran erinnert, dass die Weimarer Republik auch an der Schwäche der demokratischen Parteien zerbrochen war.
Geht’s auch ne Nummer kleiner? Oder sogar auch anders herum? Kann es nicht sogar sein, dass die natürlich peinliche Nichtwahl im ersten Gang sich am Ende noch als segensreich erweist? Ich will gar nicht behaupten, dass es so kommt -ich kann nämlich auch nicht per Glaskugel in die Zukunft schauen. Ich halte es aber für denkbar, dass die Ereignisse von gestern letztlich disziplinierend wirken.
Keine "große" Koalition mehr

Erleichterung nach dem zweiten Wahlgang
Denn nun muss auch der Letzte begriffen haben, dass das, was manche immer noch als "große Koalition" bezeichnen, genau das eben nicht mehr ist: Groß! Das letzte Mal, als Union und SPD zusammen regierten, hatte Angela Merkel noch eine satte Mehrheit von 89 Stimmen. Diesmal sind es bei Friedrich Merz nur noch 26.
Das macht einen gewaltigen Unterschied. Jede einzelne Gegenstimme aus den eigenen Reihen erhöht das Risiko einer Abstimmungsniederlage. Und das muss jedem klar sein, wenn er oder sie überlegt, gegen Projekte der eigenen Koalition zu stimmen. Gestern war das wahrscheinlich noch nicht so. Wer auch immer sein Mütchen an Friedrich Merz oder auch Lars Klingbeil kühlen wollte, hat jetzt gesehen, wohin das führen kann.

Friedrich Merz (CDU) und Lars Klingbeil (SPD)
Das bedeutet zweierlei: Kanzler und Vizekanzler, beide ja auch Vorsitzende ihrer Parteien, müssen künftig besser darauf achten, ihre Leute mitzunehmen. Das haben sie zuletzt nicht getan. Merz verstörte viele Unions-Parteigänger mit seinen Alleingängen zum Beispiel in der Flüchtlingspolitik, wo er auch die Zustimmung der AfD in Kauf nahm. Oder auch mit der Sonderverschuldung für Verteidigung und Infrastruktur, mit der er Wahlkampfversprechen mal so eben schnell einkassierte. Und Klingbeil verärgerte so manchen in der SPD mit allzu selbstbewusstem und eigenmächtigem Vorpreschen bei der Besetzung von Spitzenposten in Regierung und Partei.
Die Suche nach Gemeinsamkeiten
Mehr Demut und mehr Einbindung können der Regierung bei den großen Vorhaben, die jetzt vor ihr stehen, aber nur helfen. Denn es ist existenziell wichtig, keine Politik des Augen-zu-und-durch zu machen. Möglichst viele Menschen mitzunehmen, bei teilweise auch schmerzlichen Entscheidungen, sollte ein Ziel der Koalition sein.

Hannelore Kraft (SPD, r.) und Sylvia Löhrmann (Grüne)
Mir kommt da auch eine Erfahrung aus Nordrhein-Westfalen in Erinnerung. Die zwei Jahre der Minderheitsregierung unter Hannelore Kraft 2010 bis 2012: Anfangs fragten sich viele, wie das gelingen sollte. Brauchte Rot-Grün doch immer auch Stimmen aus der Opposition, um Gesetze durchzubringen. Doch die Suche nach Gemeinsamkeiten funktionierte besser als gedacht: Sogar das Dauer-Streitthema Schule wurde mit dem sogenannten Schulfrieden abgeräumt.
Das müsste doch im Bund mit einer nicht mehr großen Koalition aus Schwarz und Rot auch möglich sein. Erste Nagelproben stehen schon vor der Tür: Zunächst muss die neue Arbeitsministerin Bärbel Bas ein überzeugendes Konzept zur Grundsicherung vorlegen, mit der das Bürgergeld abgelöst werden kann. Und dann muss die Regierung in kürzester Zeit gleich zwei Haushalte vorlegen. Für 2025 und fürs kommende Jahr. Da wird sich schon zeigen, ob man aus der gestrigen Kanzlerwahl die richtigen Schlüsse gezogen hat.
Wenn das gelingt, ist Deutschland noch lange nicht verloren.