Abba Naor am Tor des ehemaligen Konzentrationslagers in Dachau.

Bayern Und wenn alle Zeitzeugen tot sind? Erinnerungskultur der Zukunft

Stand: 08.05.2025 05:12 Uhr

Gedenkstätten, Erinnerungsorte und Wissenschaftler stehen derzeit vor einer großen Herausforderung: Was tun, wenn die letzten Zeitzeugen des grausamen NS-Regimes verstorben sind? Wie können ihre Erinnerungen für die Zukunft bewahrt werden?

Von Sandra Demmelhuber

Können "interaktive digitale Zeugnisse" Zeitzeugen ersetzen?

Es ist nicht der echte Abba Naor, der die erste Frage so entschlossen und mit festem Blick beantwortet hat. Es handelt sich dabei um ein sogenanntes "interaktives digitales Zeugnis" auf einer schwarzen Leinwand und in 3D-Optik. Manchmal wird diese Technik auch als "Hologramm" bezeichnet.

Rund 1.000 Fragen haben Studierende und Wissenschaftler der Ludwig-Maximilians-Universität München in Zusammenarbeit mit dem Leibniz Rechenzentrum Abba Naor und weiteren Zeitzeugen gestellt.

Neben Zilli Schmidt, einer Überlebenden des Völkermordes an den Sinti und Roma, gibt es auch von der jüdischen Kinderärztin Eva Umlauf ein "interaktives digitale Zeugnis". Die 82-Jährige ist eine der jüngsten Überlebenden des Vernichtungslagers Auschwitz. Nach der Befreiung am 27. Januar 1945 durch die Rote Armee blieb sie mit ihrer Mutter noch weitere sechs Monate im ehemaligen Lager. Im April wurde dort dann ihre jüngere Schwester Nora geboren.

Digitale Zeitzeugnisse: "Eine unperfekte Lösung"

Es sind echte Antworten, also die Originalstimmen der Zeitzeugen, auf echte Fragen. Das System funktioniert mit Spracherkennung.

Mit eingebunden bei dem digitalen Zeitzeugen-Projekt vom Leibniz-Rechenzentrum und LMU war von Anfang an auch Daniel Kolb. Für den promovierten Informatiker war es sogar die erste intensivere Beschäftigung mit dem Holocaust und auch das erste Mal, dass er bei den Filmaufnahmen Zeitzeugen persönlich kennengelernt hat. Das hat ihn so sehr bewegt, dass er weiter in diesem Gebiet forschen will. Um möglichst viel von dem zu bewahren, worüber die Zeitzeugen berichten.

"Wir untersuchen weitere Möglichkeiten, weitere Wege, weil es halt auch keine perfekte Lösung gibt. Das perfekte ist, mit dem echten Menschen zu sprechen! Und das wird irgendwann nicht mehr sein", sagt Kolb. Deshalb können alle Lösungen, jede Art der digitalen Erinnerungskultur, auch nur Nachteile haben. Dennoch ist der Wissenschaftler überzeugt: "In der Gesamtheit können wir vielleicht möglichst viel bewahren."

Auf Einsatz von Künstlicher Intelligenz wird bewusst verzichtet

Schon jetzt haben die wenigsten Schülerinnen und Schüler oder Besuchergruppen von Gedenkstätten die Möglichkeit, mit echten Zeitzeugen zu sprechen. Projekte, wie die digitalen Zeugnisse am Leibniz-Rechenzentrum können helfen, das Geschehene besser zu verstehen. Das hat auch Daniel Kolb in den letzten Jahren beobachtet, wenn zum Beispiel Klassen zu Besuch waren: "Das ist ja was ganz anderes als die ganzen Fakten, die man im Geschichtsbuch stehen hat. Diese affektive, diese emotionale, diese menschliche Komponente bringt noch eine ganz andere Dimension in das Lernen hinein."

Auch deshalb sind die "interaktiven digitalen Zeugnisse" im Leibniz-Rechenzentrum ausschließlich Originalaufzeichnungen. Abgesehen von der Spracherkennung für die Antworten wird auf den Einsatz von Künstlicher Intelligenz bewusst verzichtet. Die Gefahr sei einfach zu groß, erklärt Daniel Kolb, dass der Computer beim Generieren der Antworten Unfug produziere. "Das ist etwas, was bei der Thematik nicht sein darf", so der Wissenschaftler. Denn theoretisch könne es – bei von einem Computer generierten Antworten – passieren, dass man möglicherweise irgendwann in Bereiche der Holocaust-Relativierung reinkomme.

Früher boten Zeitzeugen noch selbst Rundgänge in Gedenkstätten an, heute informieren QR-Codes

Auch in der KZ Gedenkstätte Dachau beschäftigt sich Christoph Thonfeld seit einigen Jahren mit digitaler Erinnerungskultur. Eines der neuesten Projekte ist beispielsweise ein virtueller Rundgang mit eingebetteten Audios und Videos, der auch vor Ort im ehemaligen Konzentrationslager mit QR-Codes aufgerufen werden kann.

Der Leiter der wissenschaftlichen Abteilung der Gedenkstätte erklärt, dass sich die Art der Erinnerung schon seit etwa 30 Jahren in einem Prozess der Veränderung befinde. Als 1965 die KZ-Gedenkstätte Dachau eingeweiht worden ist, sei das Gedenken noch sehr auf die Zeitzeugen selbst reduziert gewesen, erklärt Thonfeld: "Die Anerkennung der Politik war sehr zurückhaltend. Da hat sich erst in den 90er-Jahren eine größere Akzeptanz entwickelt. Hier am Ort haben Überlebende Rundgänge angeboten, bevor es hier überhaupt so etwas wie eine Bildungsabteilung gab."

Wie kann das Material für die Zukunft archiviert werden?

Laut Christoph Thonfeld ist in den letzten Jahrzehnten ein großer Fundus an Material zu den Zeitzeugen zusammengekommen. Ein Großteil sei dabei noch nicht einmal vollständig erschlossen. Eine der wichtigsten Fragen der Forschung sei deshalb aktuell auch, wie die Audio- und Videoformate bewahrt und gesichert werden können. "Die vielleicht eh schon verrauscht und undeutlich waren und dann natürlich nicht besser werden. Es ist eine fortlaufende Aufgabe, die uns sicherlich auch in mehreren Jahren noch beschäftigen wird", so Thonfeld.

Wichtigste Aufgabe: Würde der Zeitzeugen bewahren

Der CSU-Politiker Karl Freller, der zugleich Stiftungsdirektor der Bayerischen Gedenkstätten ist, betont, dass es genau so wichtig sei, neben den Erzählungen der Zeitzeugen und den neuen digitalen Möglichkeiten vor allem auch die Orte der damaligen Verbrechen zu erhalten. "Lernen ist die beste Prävention für die Zukunft. Dass sich nicht wiederholt, was im letzten Jahrhundert geschehen ist. Und wenn wir das 'Nie wieder!' wieder beherzigen wollen, dann brauchen wir diese Stätten des Lernens", so Freller.

Am ehemaligen Konzentrationslager Dachau zum Beispiel wurden schon kurz nach dem Zweiten Weltkrieg alle Schlaf-Baracken abgerissen. Erst zur Einweihung der KZ-Gedenkstätte am 9. Mai 1965 wurden sie dann wieder rekonstruiert. Mittlerweile ist der Umgang mit diesen Orten des Verbrechens ein anderer geworden.

Bei einem Thema sind sich die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler einig: Ob es sich um die sogenannten "Steinernen Zeugen", wie die Gedenkstätten auch genannt werden, oder um "interaktive digitale Zeugnisse" handelt: Das Wichtigste ist, nicht nur die Erlebnisse der Zeitzeugen, sondern auch ihre Würde zu bewahren.

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Quelle: Thema des Tages 08.05.2025 - 17:50 Uhr