Zeitzeuge Wilfried Steuer aus Langenenslingen

Baden-Württemberg Wilfried Steuer aus Langenenslingen erlebte als Kind den Einmarsch der Franzosen

Stand: 07.05.2025 16:03 Uhr

Zum Ende des Zweiten Weltkriegs war Wilfried Steuer mit seiner Familie in Neuenbürg im Nordschwarzwald. Später verschlug es ihn nach Oberschwaben, wo er bis heute lebt.

Von Martin Hattenberger

Vor 80 Jahren endete am 8. Mai 1945 der Zweite Weltkrieg auch in der Region Bodensee-Oberschwaben offiziell. Wilfried Steuer ist vielen noch als ehemaliger Landrat von Saulgau und Biberach bekannt. Mit zwölf Jahren erlebte er das Ende des Kriegs im Schwarzwaldort Neuenbürg (Enzkreis). Dort war sein Vater als Zollbeamter hinversetzt worden.

Steuer ist am 20.3.1933 in Stuttgart zur Welt gekommen. Zu Kriegsbeginn war er sechs Jahre alt. In der beschaulichen Kleinstadt Neuenbürg war der Krieg zunächst kaum zu spüren, sagt er. "Man hat nur bemerkt, dass viele Männer gefehlt haben. Die wurden alle eingezogen", erinnert sich Steuer im SWR-Interview.

Bei Kirchenbesuch überwacht

Die Familie war streng katholisch. Das sei von den Nationalsozialisten kritisch beäugt worden: "Mein Vater war in der Zentrumspartei. Von daher war man schon in Opposition zu den Nationalsozialisten. Wir waren da schon auf der roten Liste bei den Nazis, weil wir sonntags in die Kirche gegangen sind", erinnert sich Wilfried Steuer 80 Jahre später. Das ging sogar so weit, dass die Kirchgänger überwacht wurden, erinnert er sich.

Mein Vater wurde fotografiert, wie er in die Kirche ging. Danach ist er immer in die Frühkirche gegangen, weil die Nazis da noch im Bett gelegen sind. So war das damals. Wilfried Steuer, Zeitzeuge aus Langenenslingen

Ein Cousin der Mutter war Reinhold Frank, ein Rechtsanwalt aus Karlsruhe. Er war ebenfalls in der Zentrumspartei und gehörte zur Widerstandsgruppe um Graf Stauffenberg. Dafür wurde er 1945 von den Nazis erhängt.

Kontrollen vom Jungvolkführer

Heute beschreibt Wilfried Steuer seine Kindheit als schöne Zeit. "In der Schule musste man eben morgens 'Heil Hitler' rufen. Aber das war nicht so schlimm." Später, mit zehn Jahren, war er auch im Jungvolk, der Vorfeldorganisation der Hitlerjugend. Für ihn eine spannende Zeit.

"Da hat man sich immer mittwochs getroffen und hat da exerziert. Also, hinlegen, aufstehen, marschieren. Das war nicht schlimm bei uns", erinnert sich der 92-Jährige. Doch, er eckt auch manchmal an, kommt ohne Uniform zu den Versammlungen. "Da habe ich gesagt, die Mutter hat die gewaschen. Das hat mir der Jungvolkführer aber irgendwann nicht mehr geglaubt und wollte das kontrollieren. Aber meine Mutter war eine schlaue Frau und hat gesehen, dass ich mit dem Jungzugführer komme, da hat sie die Uniform in eine Schüssel getan." So entgeht er einer Strafe.

Todesmeldungen überbringt der Bürgermeister

Doch bald kam die harte Realität des Kriegs auch im Nordschwarzwald an. Wilfried Steuer erinnert sich an eine Situation sehr lebhaft: "Immer wenn der Bürgermeister und die Ortsgruppenleiter durch die Straßen zu einem Haus gelaufen sind, hat meine Mutter gesagt: 'Kuck, jetzt ist wahrscheinlich schon wieder einer gefallen.' Die haben immer die Todesnachrichten überbracht und das ist mir im Gedächtnis geblieben."

Zeitzeuge Wilfried Steuer über seine Kindheit im Krieg

Die Soldaten haben schon was gegolten. Aber die Parteibonzen waren verhasst. Das waren viele kleine Beamte, die waren auf einmal gleichrangig mit dem Bürgermeister. Wilfried Steuer, Zeitzeuge aus Langenenslingen

Vater wird eingezogen

Im Jahr 1943 wurde der Vater eingezogen, sein Bruder musste später zur Flak nach Karlsruhe. "Der hatte Glück. Er hätte 1945 noch zur Wehrmacht sollen. Da hat aber unsere Mutter gesagt, jetzt gehst du nicht mehr fort." Der Vater überlebt den Krieg, verbringt aber ein Jahr in französischer Kriegsgefangenschaft.

In den letzten Kriegsjahren erinnert er sich an Mangel, vor allem bei den Lebensmitteln. Das Essen sei knapp gewesen. "Es gab Lebensmittelmarken. Und dann gab es Küchen, in denen man sich damit eine Suppe holen konnte. Aber da war fast nichts drin außer Brühe", so Wilfried Steuer.

Seine Familie musste auch eine ausgebombte Familie aufnehmen. Das habe für Konflikte gesorgt, so Steuer. Aber man habe sich nicht wehren können.

Der Krieg endet mit dem Einmarsch der Franzosen

Das Kriegsende erlebt er 1945 im Nordschwarzwald. Kämpfe habe es dort keine gegeben. Zum Glück, wie Wilfried Steuer heute sagt. "Da hat es welche gegeben, die den Ort noch verteidigen wollten. Aber da haben der Bürgermeister und der Ortsgruppenleiter gesagt, sie sollen gehen." Denn wenn die Franzosen und Amerikaner Widerstand gespürt hätten, sagt Steuer, dann hätten sie sofort geschossen.

Eindrucksvoll waren für ihn als Jungen der erste Kontakt zu den französischen Soldaten und die Gerüchte rund um die Fremden, die kursierten: "Ich erinnere mich noch an den Einmarsch der Franzosen, weil da viele Marokkaner dabei waren. Da hat das Jungvolk, zu dem ich kurz vorher noch eingezogen wurde, gesagt, dass die Marokkaner Kinder fressen würden." Doch er erlebte sie ganz anders.

Die Franzosen und die Marokkaner waren höflich zu uns. Da kann man sich nicht beklagen. Wilfried Steuer, Zeitzeuge aus Langenenslingen

Wilfried Steuer über das Kriegsende als Schüler

Für die Kinder hatte das Kriegsende eine positive Seite: "Wir Kinder waren in erster Linie froh, dass wir nicht mehr in die Schule mussten. Wir hatten von April bis November 1945 keine Schule gehabt. Das haben wir nicht so ernst genommen."

Steuer geht nach Kriegsende zu Verwandten nach Bachhaupten bei Bad Saulgau (Kreis Sigmaringen). Dort arbeitete er auch schon während des Kriegs immer wieder auf dem Hof mit. Für ihn eine schöne Zeit: "Da durfte ich mit elf Jahren schon mit den Pferden pflügen. Da war man stolz, dass man mitarbeiten durfte."

Holz zur Schule mitbringen

Im November 1945 war das schöne Leben für ihn wieder vorbei. Er musste zurück in die Schule. Und erinnert sich vor allem an eines: "Man musste Holz mitbringen in die Schule, damit die Schule beheizt werden konnte. Das war schon primitiv. Aber wir haben glaube ich, nicht weniger gelernt als die Kinder heute."

Karriere als Landrat

Nach dem Krieg hat Wilfried Steuer Landwirtschaft und Jura in Tübingen, Hohenheim und in Bonn studiert. Später verschlug es ihn nach Oberschwaben. Bis heute ist er ein politisch denkender Mensch, er war lange in der CDU aktiv. 1968 war Landratswahl im damaligen Saulgau: Er tritt an und wird gewählt. "Als der Kreis nach vier Jahren aufgelöst worden ist, hab ich mich in Biberach beworben und so war ich Biberacher Landrat bis 1993." Danach war er noch als Energiemanager bei der Energie-Versorgung Schwaben tätig.

Seit den frühen 1970er-Jahren lebt er in Langenenslingen (Kreis Biberach) in einem alten Schulgebäude, das er umgebaut hat.

Sendung am Do., 8.5.2025 10:30 Uhr, SWR4 BW Studio Friedrichshafen

Mehr Zeitzeugenberichte zum Kriegsende