
Baden-Württemberg Gewalt gegen Kinder in BW nimmt zu - Zahlen, Ursachen und Hilfsangebote
Eigentlich steht die Familie für Geborgenheit und Vertrauen. Doch immer wieder erleben Kinder ausgerechnet hier Gewalt. Wie sich die Zahlen entwickeln und was man tun kann.
Geschlagen, sexuell missbraucht oder gar getötet - und das von Menschen aus der eigenen Familie: Hunderte Kinder in Baden-Württemberg werden Jahr für Jahr Opfer von Gewalt im familiären Umfeld. Und immer mehr solcher Fälle werden bekannt. Was das bedeutet, was erfasst wird und wo es Hilfe gibt - eine Übersicht:
Wie haben sich die Zahlen entwickelt?
1.989 Opfer im Alter bis 13 Jahren nennt der Sicherheitsbericht des baden-württembergischen Innenministeriums für das Jahr 2024. Im Vergleich zum Vorjahr war das ein Plus von fast neun Prozent. Aber auch über mehrere Jahre betrachtet war es der höchste Wert. 2016 waren der Statistik zufolge 1.124 Kinder betroffen. Hinzu kamen im vergangenen Jahr dem Ministerium zufolge 1.151 Fälle bei Jugendlichen im Alter von 14 bis 17 Jahren (2023: 1.008 Fälle).
Dabei gilt es zu beachten: Wenn jemand innerhalb eines Berichtsjahres mehrmals Opfer von strafbaren Handlungen geworden ist, wird er einem Ministeriumssprecher zufolge in der Statistik mehrfach gezählt.
Was wird dabei erfasst?
Dafür gibt es bundesweit einheitliche Regeln. Es gehe vor allem um Opfer von Straftaten gegen das Leben, die körperliche Unversehrtheit, Freiheit und sexuelle Selbstbestimmung. Auch Versuche werden gezählt.
Körperliche Verletzungen werden nach dem Grad ihrer Schwere erfasst. Als schwer verletzt gilt man demnach, wenn man in einem Krankenhaus stationär zur Behandlung aufgenommen wurde. Psychische Verletzungen werden in der Polizeilichen Kriminalstatistik (PKS) hingegen nicht erfasst.
Was weiß man über die Opfer?
13 Kinder wurden im vergangenen Jahr dem Bericht zufolge in Baden-Württemberg von Angehörigen getötet. Sieben von ihnen seien ein Jahr alt oder jünger gewesen. Unter Jugendlichen gab es demnach 2024 hier keine Fälle. 870 von ihnen wurden aber Opfer von anderen Körperverletzungsdelikten.
Bei Kindern gab es laut dem Sicherheitsbericht hier 1.213 Betroffene. Im Vergleich zum Vorjahr sei dies ein Anstieg von mehr als sechs Prozent. 367 Kinder seien sexuell missbraucht worden - in etwa so viele wie im Vorjahr.
Mädchen werden dem Bericht zufolge mit einem Anteil von rund 53 Prozent etwas häufiger Opfer als Jungen. Im Bereich des sexuellen Missbrauchs sei der Anteil mit knapp 80 Prozent allerdings deutlich höher.
Was heißt familiäres Umfeld?
Hier ist die Stellung des Opfers beziehungsweise sein familienrechtlicher Status gegenüber dem oder der Tatverdächtigen maßgeblich. Zum familiären Bereich zählen unter anderem Eltern, Großeltern und Geschwister, auch Pflege-, Adoptiv- und Stiefeltern sowie Halbgeschwister. Aber auch beispielsweise Onkel, Tanten, Cousins und Cousinen werden zum familiären Umfeld gerechnet.
Wie hoch ist die Dunkelziffer?
Schätzungen dazu, wie viele Fälle unentdeckt bleiben, enthält der Bericht nicht. Diese seien auch aufgrund unterschiedlicher Definitionen nur schwer zu erstellen, sagt Prof. Thomas Hillecke vom Verein Behandlungsinitiative Opferschutz (Bios) in Karlsruhe. So könne man auch Kinder als Opfer häuslicher Gewalt betrachten, die zwar nicht selbst körperlich angegangen werden, aber mit ansehen müssen, wie der Vater die Mutter schlägt.
"Gerade in Familien passiert viel, was durch die Familie gedeckt wird", sagte Hillecke. Daher wäre es wichtig, dass sich zum Beispiel Ärzte untereinander austauschen könnten. Hier sollte der Datenschutz gelockert werden. "Ein gezielter Austausch ist in bestimmten Fällen bereits heute möglich", schreibt das Sozialministerium auf eine aktuelle Anfrage der Landtags-SPD hierzu.
Wiederum könnte eine steigende Zahl bekannter Fälle auch ein Hinweis darauf sein, dass das Dunkelfeld kleiner werde, sagte Hillecke. Aber das sei nur eine These.
Was passiert mit betroffenen Kindern?
In akuten Krisensituationen nehmen Jugendämter Kinder und Jugendliche in Obhut und bringen sie in einer speziellen Einrichtung oder bei geeigneten Personen unter. Im Jahr 2023 gab es nach aktuellsten Zahlen des Statistischen Landesamtes 3.090 Fälle von dringenden Kindeswohlgefährdungen. Das sei ein Plus von sechs Prozent im Vergleich zum Vorjahr gewesen.
Zur akuten Betreuung können Betroffene zum Beispiel an eine Traumaambulanz vermittelt werden. Bios könne Kinder ab vier Jahren behandeln, so Hillecke.
An Gewaltambulanzen können sich Menschen wenden, die eine gerichtssichere Dokumentation und Spurensicherung von Verletzungsbefunden wünschen, nachdem sie körperliche und/oder sexuelle Gewalt erfahren haben.
Ein generelles Problem ist dabei, dass es an Therapieplätzen mangelt. Es fehle das nötige Fachpersonal und teilweise auch das Geld, sagte Hillecke.
An wen können sich betroffene Kinder wenden?
Das Bundesjustizministerium gibt in einem Ratgeber für Jugendliche Polizei und Jugendämter als Ansprechpartner an. Auch können Kinder und Jugendliche zum Beispiel Vertrauenslehrer und -lehrerinnen oder Gruppenleitungen in Vereinen ansprechen. Zudem können sie sich direkt an Hilfsstellen wenden.
Das Modellprojekt Bios-Youngsters etwa ist montags bis freitags zwischen 11 und 15 Uhr unter der Telefonnummer 0721/669-82089 erreichbar. Das Kinder- und Jugendtelefon des Vereins "Nummer gegen Kummer" ist unter 116-111 montags bis samstags von 14 bis 20 Uhr erreichbar und garantiert absolute Anonymität. Auch per Mail oder im Chat kann man sich beraten lassen.
Der Weisse Ring bietet täglich von 7 bis 22 Uhr über sein Opfer-Telefon unter der kostenfreien Rufnummer 116-006 Hilfe an. Betroffene können sich auch hier online anonym beraten lassen. Das sind nur einige Beispiele.
Was kann ich tun, wenn ich einen Verdacht habe?
Der Malteser Hilfsdienst rät, Hilfsbereitschaft zu zeigen, Unterstützung anzubieten und konkret nachzufragen ("Kann es sein, dass ...?"). Zudem solle man aufzeigen, welche Hilfsmöglichkeiten es gibt. Auch bei den Beratungsangeboten kann man sich telefonisch oder online Tipps holen.
In einer Broschüre zum Opferschutz schreibt Landesinnenminister Thomas Strobl (CDU): "Insbesondere bei Straftaten außerhalb der Öffentlichkeit, beispielsweise bei sexuellem Missbrauch von Kindern oder häuslicher Gewalt, ist eine Anzeige bei der Polizei meist die einzige Möglichkeit, die Opfer und potenzielle weitere Opfer vor endlosem Leid zu schützen."
Was tut das Land?
Unter Federführung des Sozialministeriums fördert Baden-Württemberg landesweite Projekte im Bereich der Prävention, Intervention und Betroffenenarbeit. Darüber hinaus wird derzeit eine Gesamtstrategie für den Kinderschutz erarbeitet, die den Kinderschutz als gesamtgesellschaftliche Aufgabe in den Blick nimmt.
Der Verein Bios bietet laut Sprecherin Sabrina Sengle auch Hilfe für Menschen an, die Angst haben, Täter zu werden. Dieses Angebot sei vor kurzem erst für den Bereich häusliche Gewalt geöffnet worden.
Sendung am Mi., 7.5.2025 10:00 Uhr, SWR4 am Vormittag, SWR4