
"Verschickungskinder" Gewalt in Kurheimen - Studie legt Missstände offen
"Verschickungskinder" sollten sich in Kurheimen eigentlich erholen können. Doch bis in die 1970er-Jahre erlebten sie oft Demütigung und Gewalt. Laut einer umfassenden Studie gab es erhebliche strukturelle Missstände in den Heimen.
Sogenannte Verschickungskinder erlebten bei Kuren nach dem Krieg bis in die 1970er-Jahre Demütigungen und Gewalt - und das war oft auf strukturelle Defizite in den Kurheimen zurückzuführen. Zu diesem Ergebnis kommt ein Forschungsbericht von Historikerinnen und Historikern der Humboldt-Universität Berlin.
Ein wesentlicher Faktor war laut der Studie die mangelnde Finanzierung der Heime und der Kuren. Weitere Ursachen waren Personalknappheit, die räumliche Isolation vieler Heime, eine oft mangelhafte Aufsicht und das Fehlen angemessener pädagogischer Konzepte.
Individuelles Fehlverhalten habe oft keine Konsequenzen gehabt, erklärte Historiker Alexander Nützenadel: "Es wurde kein Heim geschlossen aufgrund von Beschwerden."
Keine Einzelfälle, sondern strukturell bedingt
Die Forschenden haben bundesweit die Situation der Kinder in Kureinrichtungen zwischen 1945 und 1989 untersucht. Den Auftrag dazu hatten die ehemaligen Heimträger Deutscher Caritasverband, Diakonie Deutschland und Deutsches Rotes Kreuz sowie die Deutsche Rentenversicherung erteilt, die bzw. deren Vorgänger viele der Kuraufenthalte finanziert hatten.
Die Studie kommt zu dem Schluss, dass viele Jungen und Mädchen in den Kinderkureinrichtungen keine erholsame oder heilsame Zeit hatten. Betroffene berichten demnach von mangelhaften räumlichen und hygienischen Bedingungen, schlechter Betreuung und Verpflegung. Sie seien kontrolliert, eingeschüchtert oder gedemütigt worden. Außerdem seien sie teilweise körperlicher, psychischer und sexualisierter Gewalt ausgesetzt gewesen. Einschüchterungen und Demütigungen waren demnach keine Einzelfälle, sondern strukturell bedingt.
Ausmaß des Problems nicht geklärt
Nützenadel wies darauf hin, dass die Spannbreite zwischen den Heimen sehr groß gewesen sei. Eine komplexe Struktur von Trägern, Fach- und Interessenverbänden, Entsendestellen und vielen Heimen habe das Kinderkurwesen der untersuchten Zeit geprägt. "Es waren nicht alle Heime von Missständen geprägt," so Nützenadel.
Wie groß das Problem gewesen sei, könne die Studie wegen der lange zurückliegenden Ereignisse nicht aufklären. "Auch wenn Kinder und Jugendliche positiv oder neutral von ihren Kuren berichten, war die Realität in den Heimen häufig eine andere", so Nützenadel weiter. Daher seien Forschungsergebnisse wie diese unverzichtbar, um Wahrheitsgehalt und Relevanz der Erlebnisberichte der Betroffenen zu unterstreichen.
"Kein leichter Weg" für Betroffene
Betroffene waren in einem Projektbeirat vertreten. Christiane Dienel von der Betroffeneninitiative Verschickungskinder e.V. betonte, die Mitarbeit an der Studie sei "kein leichter Weg" gewesen. Eine historische Einordnung werde von Betroffenen "immer als Angriff auf die Authentizität unserer Erinnerungen" wahrgenommen. Das lasse sich nicht ganz auflösen.
Statt Fürsorge und Geborgenheit hätten viele der verschickten Kinder Demütigung und Schmerz erfahren, sagte Caritas-Präsidentin Eva Maria Welskop-Deffaa. "Die Erkenntnisse des Forschungsberichts erschüttern uns". Das erlittene Leid könne nicht ungeschehen gemacht werden.
Diakonie-Präsident Rüdiger Schuch bedauerte, dass Kinder und Jugendliche damals Gewalt und Erniedrigung bei Kinderkuren erfahren hätten. Die Kinder- und Jugendpädagogik habe sich seither weiterentwickelt und stelle heute die Rechte und die Würde von jungen Menschen in den Mittelpunkt.
Wohl mehr als elf Millionen "Verschickungskinder"
Die Forschenden haben im Rahmen der Untersuchung historische Dokumente aus rund 60 Archiven ausgewertet und 35 Interviews mit Zeitzeuginnen und Zeitzeugen geführt. Laut Studie waren zwischen 1951 und 1990 mehr als elf Millionen Kinder und Jugendliche meist wochenlang zur Kur. Sie waren oft im Vor- oder Grundschulalter. In ganz Deutschland haben die Forschenden etwa 2.000 Einrichtungen für Kinderkuren im untersuchten Zeitraum ausgemacht.
Die Kuren sollten dazu beitragen, die Gesundheit der Kinder zu stärken, vor allem durch Ernährung und Aufenthalte im Freien. Kinderkuren, die Ärzte oder Jugend- und Gesundheitsämter veranlassen, gibt es heute kaum noch. Gängig sind Reha-Maßnahmen für Kinder.